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       # taz.de -- Psychische Belastung und Selbsthilfe: Was jetzt helfen könnte
       
       > Klimakrise, Pandemie, Krieg: Es passiert so viel Schreckliches, dass es
       > uns überfordern kann. Drei Vorschläge, wie man das psychisch aushält.
       
   IMG Bild: Mitgefühl hilft, noch besser wirkt aktive Solidarität
       
       ## Medienhygiene
       
       Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Kriegs- und Katastrophen-News.
       Die einen kommen vom Fernseher oder Smartphone nicht mehr los, die anderen
       vermeiden alle News. Medienpsycholog:innen sagen: Hyperkonsum von
       Nachrichten ist genauso schlecht wie völliges Abschalten, man kann sich ja
       nicht aus der Welt beamen. Besser ist ein Mittelweg, der für jedes
       Individuum anders aussehen kann.
       
       Dafür sollten Menschen ins eigene Innere horchen, was Nachrichten auslösen,
       gegebenenfalls den [1][Medienkonsum] reduzieren und Pausen einlegen. Zu
       Putins psychologischer Kriegsführung gehört, dass wir alle Angst vor dem
       Atomkrieg haben sollen. Hilfreich ist hier, sich zu sagen: „Ich erlaube
       Putin nicht, mein Inneres zu besetzen. Angst darf sein. Aber Angst spricht
       nicht die Wahrheit.“
       
       Wir Menschen sind Augentiere, unser Sehsinn ist der stärkste Sinn. Deshalb
       können Fotos und Filme besonders stark schockieren und Retraumatisierungen
       auslösen. Das Zeigen von Bildern des Terroranschlages von 9/11 führte laut
       einer Studie der britischen Bradford University bei mehr als jedem fünften
       Studienteilnehmenden zu Stressreaktionen, die einer [2][posttraumatischen
       Belastungsstörung] vergleichbar waren.
       
       Schlimme Nachrichten können uns in einen Zustand versetzen, den der
       US-Psychologe Martin Seligman „erlernte Hilflosigkeit“ nennt. Es reicht
       schon, wenn wir im Fernsehen andere hilflose Menschen sehen, etwa weinende
       Bombenopfer, um uns selbst ohnmächtig zu fühlen. Wir werden passiv,
       vielleicht sogar depressiv, unsere Hilfsbereitschaft sinkt. Vor allem
       Frauen reagieren mit Schuldgefühlen, die aber weder ihnen noch den Opfern
       nutzen.
       
       Wer Bilder aus der „Tagesschau“ schwer verkraftet, sollte besser Radio
       hören oder Texte lesen, sie lassen mehr Distanz zu. Es dient keinem
       Bombenopfer der Welt, wenn man deshalb nicht mehr schlafen kann. Nützlicher
       ist es, sich täglich die „guten Nachrichten im Schlechten“ zu notieren.
       Etwa Geschichten der Solidarität oder Anzeichen der Machterosion Putins.
       
       ## Selbstfürsorge
       
       Vor allem für die Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder sind
       Kriegsbilder schwer zu ertragen. Sie schlafen schlecht, haben Albträume,
       vielen kommen Erinnerungsfetzen hoch. Ähnlich geht es jenen, die im Kalten
       Krieg in den 1980er Jahren mit einem Atomkrieg gerechnet haben. Junge
       Menschen wiederum haben weniger Erfahrung im Umgang mit Weltkrisen und
       reagieren deshalb ebenfalls oft verängstigt.
       
       Aus der Traumaforschung weiß man: Unser autonomes Nervensystem
       funktioniert vollkommen unabhängig von unserem Verstand und lässt sich
       durch rationale Argumente weder beeindrucken noch beruhigen. Bei
       Bedrohungen, sei es unmittelbar oder über Medienbilder, kennt es nur drei
       Reaktionsweisen: Flüchten, Angreifen oder Erstarren. In allen Fällen
       schütten die Nebennieren Stresshormone aus, Adrenalin und Cortisol, das
       Herz schlägt schneller, Körper und Muskeln bereiten sich auf Flucht oder
       Angriff vor. Ein Trauma ist ein Erstarrungszustand. Das Nervensystem bleibt
       in der Übererregung hängen und kann nicht mehr entspannen. Aktiv zu bleiben
       ist hier die beste Vorbeugung: demonstrieren, protestieren, Geflüchtete
       aufnehmen, Geld spenden, je nach Möglichkeit.
       
       Für eine gute Selbstfürsorge ist wichtig, Empathie und Mitgefühl möglichst
       zu trennen. Empathie bedeutet, den Schmerz der Opfer zu fühlen, es fließt
       wie das Einatmen von außen nach innen und kann uns lähmen. Mitgefühl
       bedeutet, dass unsere Herzenswärme den Opfern gehört, ohne ihre Schmerzen
       mitzuempfinden, es fließt wie das Ausatmen von innen nach außen und lässt
       uns aktiv bleiben. Mit Atemübungen kann man das Mitgefühl zu stärken
       versuchen – beim verlängerten Ausatmen in Gedanken an jene, die es
       brauchen.
       
       Noch besser wirkt aktive Solidarität, sie nutzt nicht nur anderen, sondern
       auch uns selbst. Denn sie unterstützt ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, was
       laut vielen Studien wirksam vor Ängsten, Ohnmachtsgefühlen und Traumata
       schützen kann. Aber auch hier sollte man ein Zuviel vermeiden:
       Hyperaktivität kann im Burn-out enden und hilft den Opfern nicht.
       
       Die Spannbreite für Aktivitäten ist sehr breit. Auch kleine Schritte sind
       wertvoll, vor allem wenn sie massenhaft praktiziert werden. Wir können
       putinfreie Zonen schaffen, indem wir uns in Haushalt und Lebensweise von
       Gas und Öl befreien: langsamer oder gar nicht mehr Auto fahren, nicht mehr
       fliegen, Gasherde durch Elektroherde, konventionelle Lebensmittel durch
       Bio-Lebensmittel ersetzen, weil Kunstdünger riesige Mengen Putin’scher
       Energien verbraucht. Das nützt Frieden und Klima gleichzeitig.
       
       Sehr wichtig sind Gespräche. Reden ist gemeinschaftliches Bewältigen und
       hilft über Ängste hinweg. Wer zu Schwarzsehen neigt, sollte sich gezielt
       Gesprächspartner suchen, die resilienter und optimistischer eingestellt
       sind. Verängstigte Familienmitglieder oder Freund:innen, die sich zu
       isolieren beginnen, kann man vielleicht mit Frühlingsspaziergängen
       herauslocken.
       
       ## Perspektiven und Visionen
       
       Manche denken, dass Visionen und Utopien „Gut-Wetter-Produkte“ seien. In
       Kriegs- und Krisenzeiten, wenn es ums Überleben geht, sei man dazu nicht
       fähig. Aber man überlebt manchmal auch nur durch Visionen. Der jüdische
       Arzt [3][Viktor Frankl,] der unter den Nazis vier KZs durchlitt, war dazu
       nur fähig, weil ihm Visionen dafür die Kraft und seinem Leben einen Sinn
       gaben. „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“, formulierte er
       später in Anlehnung an Nietzsche.
       
       Auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht entwarfen US-Präsident Roosevelt und
       der britische Premier Churchill 1941 bei einem Geheimtreffen die
       „Atlantik-Charta“ mit acht Prinzipien, darunter das Recht der Völker auf
       Selbstbestimmung, Unverletzlichkeit der Grenzen und ein Leben frei von
       Furcht. Sie diente später als Basis für die Gründung der UNO und der
       europäischen Nachkriegsordnung. Wie könnte eine neue Nachkriegsordnung
       aussehen? Es lohnt sich, schon jetzt darüber nachzudenken. Auch darüber,
       was man selbst, ohne Roosevelt zu heißen, im Kleinen dafür tun kann.
       
       Vielleicht ist auch der Gedanke hilfreich, dass weltweit Millionen und
       Abermillionen von Gruppen und Organisationen verbunden sind in der
       Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Regeneration des Planeten. Nach
       den Worten des US-Visionärs Paul Hawken ist die globale Zivilgesellschaft
       „die größte Bürgerinitiative der Welt“.
       
       3 Apr 2022
       
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