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       # taz.de -- Nachruf auf Jürgen Reents: Ein bescheidener Kämpfer
       
       > Jürgen Reents war Shootingstar der Kommunisten und Chefredakteur des ND.
       > Er fand erst Mao, später die Grünen gut. Ein persönlicher Nachruf.
       
   IMG Bild: Er hatte Menschen, die ihn lieben: Politiker und Journalist Jürgen Reents (1949-2022)
       
       Dass er keine Lust mehr habe, hatte er anfangs nicht so ausdrücklich
       geäußert. Vor einem halben Jahr, da war Jürgen gerade in sein letztes
       Zimmer umgezogen, äußerte er erstmals, nicht mehr leben zu wollen.
       
       Er lag in seinem Bett, gerade war die Physiotherapeutin gegangen, die seine
       Hände und Füße massierte, damit diese warm bleiben. Er selbst konnte dies
       schon lange nicht mehr, vor gut vier Jahren begann diese tückische
       Erkrankung buchstäblich von ihm Besitz zu ergreifen. [1][ALS] ist für sie
       das Kurzwort, das besagt, der von ihm befallene Mensch muss hinnehmen, dass
       die Nerven absterben, das Gehirn mag Kommandos geben, aber der Körper
       gehorcht nicht mehr – und die Medizin weiß faktisch nichts über diese
       Krankheit, Heilung ausgeschlossen.
       
       Jürgen sagte also: Die Ärzte sagen, am besten wäre, ich bekäme eine
       Lungenentzündung, dann ginge alles schnell – aber ich bekomme einfach keine
       Lungenentzündung.
       
       Das, was dieser Mann, dieser neu gewonnene Freund und alte Genosse, hier
       sagt, womit er zitiert, ist nicht mit Zitate kenntlich machenden
       Anführungszeichen markiert, er kann seine Sätze nicht mehr autorisieren,
       denn er lebt nicht mehr. Am Donnerstag voriger Woche, schrieb Astrid, seine
       Liebste, an Freunde und Freundinnen, habe in Berlin endlich mal wieder die
       Sonne die Wolken überwunden, sie strahlte, und das sei in gewisser Weise
       das Zeichen des Loslassens für ihn gewesen, dass es lichter wurde, und nun
       sei er, Jürgen, ihr Liebster, wie erlöst gegangen, sein Leiden habe ein
       Ende gefunden.
       
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       Wenige Wochen zuvor war das Zimmer endlich zu seinem geworden. An den
       Wänden hingen Poster, auf einem eine Pariser Caféhausszene, ein ikonisches
       Bild aus einer Zeit, in der das Rumhängen in einem Lokal in der
       französischen Hauptstadt für ein gewisses Flair stand, für
       Weltangeschlossenheit, Coolness und das politische selbstverständliche
       Credo von „Time Is On My Side“. Im Regal Ernst Blochs „Das Prinzip
       Hoffnung“, wenige andere Bücher und ein Briefumschlag. Er bat mich, aus ihm
       die Karte herauszunehmen, auf ihr zu sehen ein Foto einer älteren Frau und
       ein paar Zeilen. Meine Mutter, sagt er, als sie mich für ein Wochenende in
       Bonn besuchte, man erkennt auf dem Bild eine gemütliche Weinschänke.
       
       Jürgen fragt, ob ich ihm die Zeilen vorlesen könne. Eine schöne Handschrift
       mit typisch mütterlichen Worten, aus denen zwischen den schlichten Zeilen
       vor allem Verblüffung hervorzuschimmern scheint, dass der Sohn ihr wirklich
       diese Zeit geschenkt hat – er war ja beschäftigt, saß damals für die
       [2][Grünen im Bundestag], war einer der Wichtigen in dieser Partei, ein
       ehemaliger Kommunist, jedenfalls ein Linker. Jürgen sagt: Lieben Mütter
       nicht immer ihre Kinder, immer? Mir schien, als würde er gleich weinen.
       Nein, Jürgen, das tun sie nicht, aber: War deine Mutter nicht vor allem
       stolz auf dich? Ich weiß nicht, erwidert er, Stolz … das ist so ein großes
       Wort. Aber ja, vielleicht.
       
       Wir kennen uns seit langem, seit 1979 genauer gesagt. Jürgen Reents war der
       öffentliche Kopf des Kommunistischen Bundes, der tonangebenden K-Gruppe in
       Norddeutschland, irgendwie, so hieß es, chinesisch orientiert, jedenfalls
       nicht, wie die DKP, DDR-hörig. Er schrieb Flugblätter, er hatte das beste
       Händchen im Verschriftlichen von Texten für den Arbeiterkampf, er war, wie
       ein anderer alter Genosse sagt, „Willis Schreibmaschine“: allzeit bereit,
       agitatorisch zu intervenieren für einen der beiden Chefs des KB, Klaus
       „Willi“ Goltermann.
       
       Wenig später war Jürgen Reents Teil der frisch gegründeten Grünen, der KB
       blieb als ein ideologisch erlöschendes Trümmerstück der radikaleren Linken
       der Siebziger zurück, gemeinsam waren wir Teil der linken Zeitschrift
       Moderne Zeiten, Ralf Fücks war mit dabei, der spätere Vordenker der
       [3][Heinrich-Böll-Stiftung], Frieder Otto Wolf, Philosoph – und ich fragte
       Jürgen Reents, ob er alte Exemplare dieser Zeitschrift noch habe, darin sei
       ein interessantes Gespräch mit dem damaligen Außenseiter der Grünen,
       Winfried Kretschmann, zu finden. Er antwortete mittels Facebook, er könne
       nicht mehr rasch antworten, er sei erkrankt, ziehe sich zurück. Einen
       Besuch bei ihm verabreden wir.
       
       Er stand in der Tür, die Arme hingen ihm herab, er konnte sie nicht mehr
       steuern. Ein Versprechen musste ich abgeben. Kein Mitleid, kein
       sentimentaler Ton. Im schönen Wohnzimmer läuft der Fernseher, Astrid macht
       Kaffee, etwas Kuchen, Jürgen kann durch einen gläsernen Halm trinken.
       Können wir über das Früher reden? Gern, aber was weiß ich, sagt er. Nicht
       mehr ist er Chefredakteur vom [4][Neuen Deutschland], seine Kontakte in die
       Partei werden seltener, so ist das Altwerden, sagt er, man verliert für
       andere an Wichtigkeit.
       
       ## Linksradikale WG
       
       Über sehr viele Stunden, anfangs in der Wohnung am Grunewald, später im
       Pflegeheim, reden wir. So, als sei es ganz normal, dass er sich immer
       weniger rühren kann, am Ende im Bett liegt. Wäre er, wäre ich religiös,
       hätten wir gesagt: Gott sei Dank gibt es Siri und Alexa, mit den digitalen
       Werkzeugen kann er Programme umschalten, den Ton des Radios lauter oder
       leiser stellen, auch Termine abfragen, das Sprechen wird leiser,
       kraftärmer, aber es geht gut. Alexa, was steht Donnerstag in meinem
       Kalender? Alexa: Nichts.
       
       So erzählt er, wie immer, niemals hastig, immer eine Sekunde überlegend.
       Zur Welt in Bremerhaven, gute Eltern, kleinbürgerlicher Haushalt,
       sozialliberal gesinnt, kein konservatives Umfeld, er, der erste in der
       Familie mit Abitur, als Schülervertreter viel Ärger, erste
       Aufrührerischkeiten, Beitritt zu den Jungen Demokraten, der liberalen
       Nachwuchsorganisation, weil dieser Verein an der Seite der späteren
       Achtundsechziger stand, gute Lehrer und Lehrerinnen, ein starkes Talent
       fürs Mathematische und Naturwissenschaftliche. Nach dem Abitur Umzug nach
       Hamburg, das Studium begonnen, aber dann in einer linksradikalen WG am
       Hamburger Feenteich, allerbeste großbürgerliche Lage, begann sein
       politisches Leben.
       
       Auf den Mitschnitten unserer Treffen hört man, dass Jürgen Reents der
       freundlichste Mensch war, der sich denken lässt. Wir gehen im Laufe der
       Monate viele Stationen durch – aber über niemanden spricht er Hässliches,
       Gemeines, Abträgliches. Und das trotz härtester Auseinandersetzung in der
       Linken.
       
       Beim KB waren wir nicht gerade die Theoriestärksten, erzählt er. Eher
       Äktschn, gegen Faschisierung von Staat und Gesellschaft, wie es hieß,
       Mobilisierung in Sachen Kampf gegen AKWs, volle Pulle gegen Brokdorf,
       Grohnde und Gorleben, aber nie Harakiri.
       
       ## Bis zum Schluss Sozialist
       
       Jürgen, warum haben wir diesen ideologischen Kram geglaubt? Die
       Bundesrepublik war doch weitflächig dabei, sich zu liberalisieren? Und
       weshalb hast du das Studium abgebrochen, war dir nie klar, du warst Teil
       der wachsenden demokratischen Elite des Landes, war nicht noch klarer, dass
       das Kommunistische eine Kuriosität bleiben würde, erfahren von den echt
       Betroffenen als Schrecken? Warum diese Siebzigerjahrespielchen, die Kämpfe
       der Weimarer Republik nachzustellen? Ich weiß es nicht, erwidert er, es ist
       so lange her, ich habe mir nie so viel Gedanken darum gemacht, ich hing da
       mit drin, und das war mir immer auch plausibel.
       
       Was habt ihr euch denn unter China und Mao vorgestellt? Er war mal, sagt
       er, in den frühen Siebzigern auf einer Ausstellung in den Kölner
       Messehallen gewesen, die Volksrepublik präsentierte sich in Bildern
       jubelndsten Einvernehmens. Jürgen sagt: Ich ging da durch und dachte mir
       nichts. Nur, dass ich die Bilder stramm stehender Milizionäre und Soldaten
       abstoßend fand, Militärisches stieß mich immer ab.
       
       Wir haben viel geredet, über seine Liebe zu Boulespiel, das Pastis-Trinken,
       die Reisen in seine Sehnsuchtsländer Italien und Frankreich, auch über die
       Beatles, die Stones. Er fragte mich, was ich an Abba gut finde und an
       Madonna und am Eurovision Song Contest – nicht exotisierend, sondern
       interessiert. Bemerkungen, die aus seinem Fundus grundsätzlicher
       Bescheidenheit schöpften, etwa, dass es gar nicht nötig sei, mich auf den
       weiten Weg zu ihm machen.
       
       Aber, Jürgen, mal zum Schluss, das mit dem Sozialismus ist doch Quatsch,
       oder? Nein, sagt er, da werde ich dir niemals zustimmen, selbst wenn ich
       möchte, ich würde mein ganzes Leben verraten.
       
       Dass er kurz nach dem Ende der DDR in die PDS eintrat, für Gregor Gysi
       arbeitete, später für das Neue Deutschland den Chef machte und der Klügste
       aus dem Westen war, den die SED-Nachfolger*innen haben von dort shanghaien
       können, lässt ihn trotzdem sagen: Ich bin emotional immer stärker den
       Grünen verwandt geblieben, das war mein Projekt.
       
       Er ist gegangen, er war mir wichtig geworden. Man musste ihm wünschen,
       gehen zu dürfen. Er hatte Menschen, die ihn lieben. Und das ist nur
       gerecht.
       
       15 Apr 2022
       
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