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       # taz.de -- Musikberieselung am Bahnsteig: Geigenalarm am U-Bahn-Gleis
       
       > Die Berliner Verkehrsbetriebe setzen neuerdings auf klassische Musik in
       > vier Bahnhöfen. Das Warten soll so angenehmer sein. Ist das der einzige
       > Zweck?
       
   IMG Bild: Der schicke (und neue) U-Bahnhof Museumsinsel muss ohne klassische Musik auskommen
       
       Im Vergleich zu anderen Metropolen wie Budapest oder Moskau wirken die
       U-Bahnhöfe unserer Hauptstadt größtenteils trist und verdreckt. Kein Wunder
       also, dass die meisten von uns eher ungern die paar Minuten im Bahnhof
       verbringen, bis die nächste Bahn eintrifft.
       
       Einer jener Berliner trostlosen U-Bahnhöfe ist der Moritzplatz in
       Kreuzberg. Ganz anders als die schicke neu gebaute [1][Touristation
       Museumsinsel] ist der [2][Moritzplatz] noch eine U-Bahnstation mit Berliner
       Charme, getreu dem Wowereit-Motto „Arm, aber sexy“. Größtenteils nutzen ihn
       Einheimische, darunter gerne auch Wohnungslose und Drogenabhängige.
       Glassplitter von kaputten Flaschen sowie Spuckreste und Kippen zieren den
       Bahnsteig, die Berliner Verkehrsbetriebe stört das jedoch mehr als die
       Anwohner*innen.
       
       Offiziell, um die Wartezeit so angenehm wie möglich zu gestalten,
       höchstwahrscheinlich aber auch, um das Image zu verbessern, wird seit
       Kurzem klassische Geigenmusik an den Gleisen abgespielt. Damit ist der
       Moritzplatz neben den Stationen Unter den Linden, Strausberger Platz und
       Südstern eine von vier Stationen, die die [3][Berliner Verkehrsbetriebe]
       für das neue Pilotprojekt „Klangvoll im Untergrund“ ausgewählt haben.
       
       Die Geigenmusik kommt beim Publikum unterschiedlich an. Ein älterer Herr
       mit weißem schütterem Haar sitzt am Bahnsteig und wippt mit seinem Fuß. Er
       freut sich, Händels „Wassermusik“ zu vernehmen, und sagt, er finde es
       schön, dass der Jugend auf diesem Weg die klassische Musik etwas näher
       gebracht werde. Die Jugend scheint sich allerdings nur wenig für die
       abgespielte Musik zu interessieren, darauf deuten zumindest die
       aufgesetzten Kopfhörer hin.
       
       ## Um Drogenabhängige zu vertreiben?
       
       Zwei Männer mittleren Alters in verstaubter Arbeitskleidung sitzen auf
       einer Bank direkt unter einem der vielen Lautsprecher. Die Vorstellung,
       dass sich jemand zu Vivaldi einen Schuss setzt, finden sie sehr
       befremdlich. Generell geht ihnen das „schrille Gefiedel“ auf die Nerven,
       und sie hoffen, dass die nächste Bahn bald kommt.
       
       Manche behaupten, die Musik werde abgespielt, um die Drogenabhängigen und
       Wohnungslosen zu vertreiben. Die Vermutung kommt nicht von ungefähr, die
       Verkehrsbetriebe haben das tatsächlich 2010 am Adenauerplatz versucht und
       2018 am Hermannplatz, dort mit atonaler Musik.
       
       Gegen diese Theorie spricht zum einen, dass die Verkehrsbetriebe die Genres
       wechseln wollen, und zum anderen die Lautstärke der Musik. Sie läuft leise
       im Hintergrund und wird unterbrochen, sobald ein Zug einfährt. Für den
       Musikpsychologen Matts Küsser von der Humboldt-Universität, der am Institut
       für Musik- und Medienwissenschaft die multimodale Wahrnehmung von Musik
       untersucht, ist die Sache damit klar. Sollte die Musik in dieser Lautstärke
       bleiben und nicht im Loop gespielt werden, glaubt er nicht, dass sie
       Wohnungslose und Drogenabhängige verscheucht.
       
       Trotzdem könnte der Moritzplatz vielleicht eine Sanierung gebrauchen. Und
       ein „Drogenkonsumraum“ in der Nähe wäre auch nicht schlecht.
       
       18 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/museumsinsel-berlin/home/
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Moritzplatz_(Berlin)
   DIR [3] https://www.bvg.de/en
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Csép
       
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