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       # taz.de -- Leben ohne Auto: Kommt Zeit, kommt Rad
       
       > Mit drei Kindern und ohne PKW ist unsere Autorin in den Wald gezogen.
       > Geht das – ein Leben auf dem Land ohne Auto?
       
       Am Morgen des 3. Januar ist es so weit. Um 5.50 Uhr sitze ich mit dem Handy
       in der Hand auf dem Klodeckel und tippe bei Ebay-Kleinanzeigen
       „Gebrauchtwagen“ und meine Postleitzahl ein. Nur mal schauen.
       
       Neben mir peitscht der Regen gegen das Badezimmerfenster, es ist
       stockdunkel, das Thermometer zeigt 1 Grad über Null. In weniger als einer
       Stunde müssen mein Freund oder ich unsere zwei Grundschulkinder durch den
       Wald zur 2,5 Kilometer entfernten Bushaltestelle bringen. Ohne Auto, wie
       immer. Straßenlaternen gibt es am Rande des Weges nicht, nur Hunderte
       Kiefern, die im Wind schwanken.
       
       Etwa ein Jahr zuvor, kurz vor Weihnachten 2020, sind wir aus Berlin nach
       Brandenburg gezogen. Nicht in eine Kleinstadt mit S-Bahn-Anschluss, nicht
       in ein Dorf mit Regionalbahnhof, sondern in eine Mietwohnung in einem
       Zweifamilienhaus, das allein mitten im Wald steht.
       
       Dass wir in der Berliner Innenstadt mit drei kleinen Kindern ohne Auto
       lebten, fiel in unserem Umfeld nicht weiter auf. Aber wenn ich vom
       geplanten Umzug erzählte, fragten mich plötzlich dieselben Menschen: Dann
       kauft ihr aber schon ein Auto, oder? Dann macht dein Freund bestimmt auch
       endlich einen Führerschein?
       
       Dabei waren doch die vielen Autos einer der Gründe, warum wir wegwollten.
       Weg aus unserer Wohnung, die gefühlt auf einer Kreuzberger Verkehrsinsel
       lag. Nach vorne raus ein Balkon, von dem man das Rauschen dreier
       verschiedener Straßen hörte. Nach hinten raus ein kleiner Hinterhof, der
       fast komplett zugepflastert war, um möglichst viele Pkw-Stellplätze zu
       vermieten.
       
       Wir wollten weg von den 20 Minuten Adrenalin, zweimal täglich, wenn wir auf
       dem Fahrrad zur Kita fuhren, auf Straßen ohne Radweg. Autofahrer gegen
       Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger, Busfahrer gegen alle. Wir wollten weg
       von der Kreuzung, an der unsere frühere Nachbarin auf ihrem Fahrrad von
       einem rechts abbiegenden Lkw überrollt wurde und starb. Weg, endlich raus.
       
       Auf dem Land geht es aber eben nicht ohne Auto! Wenn auf deutschen Podien
       zwischen Husum und Rosenheim über die Verkehrswende diskutiert wird, wenn
       darüber gestritten wird, was zu tun wäre, um die Klimakatastrophe zu
       stoppen und wegzukommen von Putins Öl, dann fällt irgendwann fast immer
       dieser Satz. Auf dem Land geht das nicht.
       
       Der Satz funktioniert quasi als Universalargument gegen Veränderung. Und es
       stimmt ja, wenn man auf die Zahlen schaut: Von den ländlichen Haushalten,
       in denen mehr als ein Mensch lebt, haben nur 3 Prozent gar kein Auto. Mehr
       als die Hälfte besitzen zwei oder mehr. 44 Kilometer ist jede Person hier
       am Tag durchschnittlich unterwegs, davon mindestens 35 am Steuer oder auf
       dem Beifahrersitz. Und eine überwältigende Mehrheit dieser Menschen ist mit
       der Automobilität zufrieden. Kein Veränderungsbedarf also.
       
       Aber genau diese Leute, Leute genau wie wir, zerstören diesen Planeten.
       Menschen, die raus aus den Städten ziehen, dabei die Landschaft mit
       Einfamilienhäusern zubetonieren und dann trotzdem zum Arbeiten in die Stadt
       wollen. Die dafür mindestens zwei Autos brauchen und die Straßen in die
       Metropolen hinein verstopfen. Wer in einer Großstadt kurze Wege hat und
       damit Verkehr vermeidet, schützt die Umwelt möglicherweise mehr als
       diejenige, die raus in die Natur zieht.
       
       Geht das auch anders? Wir wollten es probieren.
       
       Unsere Versuchsanordnung: zwei Erwachsene, die in Homeoffice-kompatiblen
       Berufen arbeiten, aber zwei- bis dreimal in der Woche nach Berlin pendeln.
       Eine Strecke: 35 Kilometer. Eine Siebenjährige und ein Neunjähriger, die um
       7.30 Uhr im Klassenraum sitzen müssen: 13 Kilometer. Eine Vierjährige, die
       im Nachbardorf in die Kita geht: 3 Kilometer. Der nächste Supermarkt: 3,5
       Kilometer. Das nächste Krankenhaus: 8 Kilometer. Auch dazu kommen wir
       später leider noch.
       
       Dezember 2020. Bevor ich mit der Mobilitätswende überhaupt loslegen kann,
       haben mir meine Eltern schon einen ihrer SUVs vor die Tür gestellt. Wir
       haben noch keinen Küchentisch, aber schon einen Geländewagen. Leihweise,
       sagen meine Eltern, für die Umzugszeit. Ich klappe die Sitzbänke um und
       schiebe gebrauchte Kommoden, auseinandergebaute Hochbetten und
       Baumarkt-Holzleisten durch die Kofferraumtür ins Innere.
       
       Beim Dinge-Transportieren höre ich Radio und denke übers Autofahren nach.
       Dass der Abschied vom eigenen Wagen vielen Menschen so schwerfällt, hat
       nicht so viel mit Verstand zu tun. Selbst in den Städten, wo es
       Alternativen gibt, die belegbar gesünder, günstiger und zeitsparender sind,
       nimmt die Zahl der Autos nicht etwa ab, sondern weiter zu. Obwohl im
       Durchschnitt nur 1,4 Menschen in einem Pkw sitzen, werden die Fahrzeuge
       immer größer. Alle Erfahrungen der Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte
       zeigen: Mit guten Argumenten ändert man keine Realitäten. Zwei der
       wichtigsten Stellschrauben für Veränderung heißen Gewohnheit und Gefühl.
       
       Ich kenne diese Welt, die nach Diesel und Motoröl riecht, gut. Meine Eltern
       sind Bauern, sie haben eine eigene Tankanlage und drei Autos. Weil immer
       eins entweder irgendwo Ersatzteile für einen Mähdrescher abholen muss oder
       gerade zu Schrott gefahren wurde. Ihr Hof liegt am Rande eines
       Mecklenburger Dorfes, und wenn ich dort als Jugendliche an der
       Bushaltestelle fror, träumte ich definitiv von anderen Dingen als von einer
       autofreien Gesellschaft. Wie alle anderen hatte ich am 18. Geburtstag meine
       Führerscheinprüfung schon hinter mir.
       
       Natürlich erinnere ich mich an mein erstes Auto. Ich hatte es mir für 500
       Euro gekauft, weil es für den Job bei der Regionalzeitung Pflicht war,
       einen Führerschein und einen Wagen zu haben. Ein kleiner, eckiger Peugeot
       205. Meine Familie nannte ihn „die rote Gefahr“.
       
       Das Auto, die Unabhängigkeit.
       
       Fast noch deutlicher erinnere ich mich an das Gefühl, das erste Mal allein
       hinter dem Lenkrad eines Treckers zu sitzen. Ein Stückchen auf dem Hof
       durften wir fahren, sobald wir über den Lenker gucken konnten und die Beine
       lang genug waren. Ich kann höchstens acht gewesen sein. Meinen ganzen
       Körper musste ich gegen das Pedal stemmen, um die Bremsen durchzutreten.
       Die Schwere des Widerstandes gab mir das Gefühl, ich selbst würde den Hebel
       irgendwo im Inneren der große Maschine umlegen. Fast so, als könnte ich
       allein mit der Kraft meines schmalen Kinderschenkels einen Trecker zum
       Halten bringen.
       
       Das Auto, die Kraft.
       
       Als es langsam Frühling wird in Brandenburg, 2021, als alle Hochbetten
       aufgebaut sind und alle Kommoden an ihrem Platz stehen, holen meine Eltern
       den SUV ab. Unsere Alternative ist endlich angekommen: ein riesiges
       schwarzes Lastenfahrrad mit drei Rädern, elektrischer Unterstützung und
       einem Kasten vorn, in dem vier Kinder unter einem Dach aus fester Lkw-Plane
       sitzen können. Es ist das Teuerste, was ich mir in meinem ganzen Leben
       gekauft habe, neunmal hätte ich die rote Gefahr davon bezahlen können. Ich
       tröste mich damit, dass wir auf lange Sicht Geld sparen: Ein Pkw kostet
       durchschnittlich 300 Euro im Monat.
       
       Ein Auto würde mich zur Chauffeurin machen. Mein Freund ist einer von 13
       Millionen Deutschen ohne Führerschein. In unserem Alltag holt und bringt er
       die Kinder deutlich öfter als ich und geht mehr einkaufen. Also muss das
       weiter ohne Wagen gehen.
       
       Ohne den Elektromotor ginge es aber nicht. Würde der nicht jedem Tritt in
       die Pedale etwas Schubkraft verleihen, kämen wir mit 50 Kilo Großeinkauf
       und 50 Kilo Kindern nicht die Hügel unserer Gegend hoch. Wenn der Akku leer
       ist, lade ich ihn einfach an der Steckdose auf. Bei einem Elektroauto
       bräuchten wir eine Ladesäule, müssten für jeden Platten in die Werkstatt –
       und es würde neu mindestens 20.000 Euro kosten. Ich möchte keinen Kredit
       aufnehmen für so ein teures Ding, das man nicht versteht. Einen Schlauch
       kann ich selbst wechseln.
       
       Wenn ich jetzt von der Kita zurückfahre und in den Waldweg abbiege, der zu
       unserem Haus führt, dann fühle ich, wie die Luft beim Atmen plötzlich
       feuchter wird, ich spüre die Kühle aus dem Moos aufsteigen und rieche die
       Würze der Kiefernnadeln.
       
       Es wird Juni, und eine Kollegin fragt mich, ob ich nicht etwas schreiben
       will über das Leben auf dem Land ohne Auto. Aber was gibt es da schon groß
       zu schreiben? Alles ist sommerleicht. Der Wocheneinkauf in den vier
       Ikea-Tüten passt genauso problemlos ins Fahrrad wie die Schwimmnudeln und
       Wasserbälle, die wir einpacken, um am frühen Abend noch kurz in den See zu
       springen. Geparkt wird direkt am Strand. Wenn ich morgens mit unserem
       zweiten elektrischen Fahrrad, einem Klapprad, 30 Minuten zur S-Bahn fahre,
       kommen mir die ersten Fahrradurlauber entgegen und es fühlt sich nach
       Ferien an. Klapp, klapp, rein in die Bahn, Zeitung lesen, klapp, klapp,
       wieder raus. Läuft bei uns.
       
       Im Sommer hat jeder Verständnis für ein Leben auf dem Rad. Als es Herbst
       wird, ändert sich das schnell.
       
       Ich ziehe ein Paar Handschuhe an, dann ein zweites darüber, aber meine
       Hände frieren trotzdem. Aus kleinen Stichen wird ein starker dumpfer
       Schmerz, dann wird der kleine Finger taub.
       
       Zum Geburtstag im Oktober bekomme ich dicke Motorradhandschuhe und ein
       zweites Paar dünne aus Merinowolle zum Darunterziehen, außerdem eine feste
       Regenhose und einen knallroten Plastikponcho. Wenn ich durch den Regen
       fahre, klingt es darin, als pladderten die Tropfen auf ein Zeltdach. Wir
       beginnen damit, den Kindern morgens Kirschkernkissen für die Fahrt zum
       Schulbus in der Mikrowelle warm zu machen. Zum Kinderfußballtraining nehme
       ich eine Thermoskanne mit heißem Wasser mit. Für die Wärmflasche auf der
       Rückfahrt.
       
       Wir wollen zum Mosten nach Mecklenburg und auf dem Rückweg mindestens 50
       Liter Apfelsaft mitnehmen. Zug fällt also aus. Unser Landkreis bietet ein
       Carsharing mit kleinen weißen Elektroautos an, ein kluges Konzept: Unter
       der Woche nutzen die Mitarbeiter der Kommunalverwaltung die Wagen, abends,
       am Wochenende und wenn sie zwischendurch nicht gebraucht werden, kann jeder
       sie per App mieten. Ich melde mich an, vergleiche und rechne, aber bis zum
       Hof meiner Eltern reicht der Akku nicht.
       
       Also fahre ich mit Klapprad und S-Bahn nach Berlin, um einen
       benzinbetriebenen Mietwagen zu holen. Näher gibt es keinen. Das erste Auto
       öffnet sich nicht, als ich über das Handydisplay wische, und auch als ich
       einen Kundendienstmitarbeiter aus den USA am Telefon habe und er versucht
       Signale an das Auto vor mir zu senden, tut sich nichts. Also radle ich
       nochmal zwanzig Minuten zum nächsten Auto. Einen halben Tag bin ich
       unterwegs, bis wir unsere Kinder einladen können und die Fahrt überhaupt
       losgeht. Ganz schön viel Aufwand für 50 Liter Apfelsaft.
       
       Brauche ich das Gefühl, mich ein bisschen zu quälen, um sicher zu sein,
       wirklich das Richtige zu tun? So aus links-masochistischer Veranlagung,
       weil es keinen Spaß machen kann, die Welt zu retten?
       
       Uns begegnet im Alltag keine Abwehr, aber Mitleid. Bekannte bestehen
       darauf, unser Kind nach einer Feier nach Hause zu bringen, statt dass wir
       es abholen wie die anderen Eltern. „Ihr könnt doch nicht so spät noch mit
       dem Fahrrad kommen!“
       
       Vor der Kita fragt ein kleiner Junge meinen Freund verblüfft: „Habt ihr
       wirklich kein Auto?“
       
       „Nein.“
       
       „Dann musst du auf auto.de gehen!“
       
       Als ich mich an einem der letzten Oktobertage abends auf das Fahrrad setze,
       ist von dem sommerleichten Selbstbewusstsein nicht mehr viel übrig. Meine
       Tochter ist auf einem Kindergeburtstag. Es ist spät, es ist fast 0 Grad
       kalt und es könnte nicht dunkler sein. Jetzt ein Kind auf dem Gepäckträger
       5 Kilometer durch Waldwege von einem alleinstehenden Haus zum anderen zu
       transportieren kommt mir irgendwie falsch vor. Ich erschrecke, als der
       Bewegungsmelder vor dem Haus angeht, und schaue schnell zum Fenster: Hat
       mich jemand gesehen? Wie eine Missionarin fühle ich mich nicht mehr, eher
       wie eine Anhängerin einer Geheimsekte, die sich dafür ein bisschen schämt.
       
       Überhaupt geht mir das Sektenhafte, Selbstgewisse auf die Nerven.
       
       Anfang 2022 sitzt mein Freund mit einem Bekannten am Feuer im Garten. Der
       Bekannte wohnt auf einem Hofprojekt in der Nähe und hat ein
       Elektromountainbike. Seine Mitbewohnerin hat sich gerade ein Auto gekauft,
       und er meint, sie würde sich selbst in die Tasche lügen und immer öfter das
       Auto nehmen. „Das mit dem Auto ist eine richtige Sucht“, sagt er. Sie reden
       sich in Rage. Bin ich hier bei den Anonymen Antiautomobilikern gelandet?
       Was ist denn so schlimm daran, ab und zu mal ein Auto zu nehmen? Das muss
       doch nicht bedeuten, sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Macht das
       überhaupt Sinn, was wir hier machen? Sich so krampfhaft an eigenen
       Kaufentscheidungen abarbeiten, dass keine Energie mehr bleibt, Forderungen
       ans große Ganze zu stellen?
       
       Ich muss mit einer Person reden, die sich auskennt. Insgeheim suche ich
       nach jemandem, der mir sagt, dass ich es besser lasse, mich wegen meines
       persönlichen Konsumverhaltens so aufzureiben, dass ich stattdessen lieber
       Demos für bessere Regionalzugverbindungen organisieren sollte – zu denen
       ich dann vielleicht auch gemütlich mit dem Auto fahren kann.
       
       Katja Diehl sitzt im Hoodie beim Frühstück in einem Hotel in Siegen, wo sie
       gestern eine Lesung hatte. Es waren Jugendliche von Fridays for Future
       dort, die an ihrer Schule eine AG zu öffentlichem Nahverkehr gegründet
       haben. Diehl ist gerade viel unterwegs, sie reist mit einem Sachbuch durch
       die Städte. Das Buch heißt [1][„Autokorrektur“] und formuliert ihre Ideen
       von der Mobilitätswende. Nebenbei hat Diehl gerade gemeinsam mit dem
       Umweltaktivisten Tino Pfaff [2][eine Petition gestartet, in der sie
       Sofortmaßnahmen für mehr Unabhängigkeit von Putins Öl fordert]. Ein
       Tempolimit, ein Verbot von Inlandsflügen und drei Monate kostenlosen
       öffentlichen Nahverkehr zum Beispiel.
       
       Normalerweise versuche ich so ein Interview persönlich zu führen. Weil mehr
       Nähe entsteht, wenn ich einer Person wirklich gegenübersitze. Aber
       vielleicht ist das – der Anspruch, sich für ein einstündiges Gespräch einen
       Tag lang in den Zug zu setzen – auch Teil des Problems. Katja Diehl hat
       vorgeschlagen, per Zoom zu sprechen.
       
       Macht Autofahren abhängig, Frau Diehl?
       
       „Das ist statistisch belegt“, sagt Katja Diehl. Wer sich ein Auto
       anschaffe, der mache bald immer mehr Fahrten damit, für die er vorher
       andere Verkehrsmittel benutzt habe. Fünfzig Prozent der Autowege im
       ländlichen Raum sind unter 5 Kilometer lang.
       
       Folgt man Katja Diehl, dann hat das Auto uns dazu gebracht, die Welt aus
       seiner Perspektive zu sehen und die Welt nach seinen Bedürfnissen zu
       formen. Deswegen finden wir es nicht irritierend, wertvollen öffentlichen
       Platz in der Stadt als Lagerort privater Gegenstände zu nutzen. Sondern
       akzeptieren, dass jeder Parkplatz Raum in der Größe eines Kinderzimmers
       einnimmt. Auch das Landleben hat das Auto verändert. Weil alle das Auto zum
       großen Supermarkt nehmen, in dem man alles bekommt, müssen die kleinen
       Läden schließen und die Ortskerne veröden. Weil fast alle mit dem Auto
       unterwegs sind, fahren Busse fast leer und der Takt wird ausgedünnt.
       
       Aber kann es Aufgabe von Einzelnen sein, dagegen anzuarbeiten? Müsste nicht
       die Politik den Rahmen setzen? Die Taktungen von öffentlichen
       Verkehrsmitteln erhöhen, Rufbusse einführen, Apps für Fahrgemeinschaften
       und mehr ländliche Carsharing-Angebote, Baugebiete ausweisen, die kompakt
       an Bahnhöfen liegen, statt zerfleddert auf den Äckern?
       
       Natürlich gehe es immer um strukturelle Veränderungen, sagt Katja Diehl.
       Aber es brauche für solche Veränderungen auch Erzählungen davon, was
       möglich sei. Und was lebenswert.
       
       Katja Diehl schaut mich an. Irgendwie, so klingt das, braucht es die
       Anti-Auto-Sekten, die Masochisten auf Klapprädern also doch, bis sich im
       Großen etwas ändert.
       
       Und dann stellt Katja Diehl noch ihre Lieblingsfrage: „Wollen Sie Auto
       fahren oder müssen Sie?“
       
       Will ich? Eigentlich nicht. Mit dem Rad anzuhalten, um einen Steinpilz am
       Wegesrand abzuschneiden, das ist das gute Leben. Mit drei Kindern auf dem
       Rücksitz auf der verregneten Autobahn einen Lkw zu überholen ist dagegen
       einer meiner größten Stressmomente. Ein Windstoß und ich lösche meine
       Familie aus, denke ich jedes Mal. Meine kleinste Tochter kotzt bei jeder
       längeren Autofahrt. Sie bittet uns immer, das Lastenfahrrad zu nehmen, wenn
       wir in einen Mietwagen steigen.
       
       Es gibt genug gute Gründe dafür, dass Menschen Auto fahren müssen. Wegen
       schlechter Radwege oder fehlender Busse. Weil sie zu alt sind, um noch Rad
       zu fahren. Weil sie eine Behinderung haben und die öffentlichen
       Verkehrsmittel nicht barrierefrei gedacht sind. Weil sie als Schwarze
       Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Brandenburg nicht sicher
       sind.
       
       Auf diejenigen, die auf das Auto angewiesen sind, verweisen gern auch die,
       die es nicht brauchen – um zu sagen, dass alles so bleiben muss, wie es
       ist. Man kann sie aber auch als Argument dafür benutzen, dass sich etwas
       ändern muss. Moment. Jetzt klinge ich doch wie eine Missionarin.
       
       Unsere Kinder jedenfalls haben wir missioniert. Noch fragt keins von ihnen
       nach einem Auto. Verkehrserziehung, das heißt ja in der Regel, seinem Kind
       beizubringen, dass es auf der Straße gefährlich ist. Aber vielleicht kann
       es auch bedeuten: neue Gewohnheiten schaffen. Die Lastenradfahrrad-Kiste
       ist ihre Höhle, hier hören sie Musik mit einem kleinen USB-Lautsprecher,
       schauen Mickey-Mouse-Hefte an und besprechen Geheimnisse, die ich auf dem
       Fahrersitz auf keinen Fall hören darf.
       
       Mut macht mir, dass wir nicht die Einzigen sind. Da ist dieser Mann mit der
       grünen Regenjacke und dem Drahtkorb auf dem Gepäckträger. Manchmal hält er
       mit seinem Fahrrad neben meinem Lastenrad an, wenn ich auf den Schulbus
       warte. Er sagt mir, in der nächsten Stadt habe ein Fahrradladen eröffnet,
       der auch Lastenräder repariert. Gelobt sei die Gentrifizierung!, denke ich.
       Er ist mittlerweile im Rentenalter, aber er erzählt davon, wie er in seinem
       Betrieb lange dafür belächelt wurde, dass er nicht mit dem Auto kam. Er
       macht schon lange alle Wege mit dem Fahrrad, bei jedem Wetter. Das Auto
       steht zu Hause nur rum.
       
       Wie so oft ist es nicht die großstädtische Ökoboheme, die die neuen Ideen
       in die Provinz trägt. Hinter Begriffen wie Kitchen Gardening und Repair
       Café stecken oft ziemlich alte Ideen. Gemüse aus dem eigenen Garten, das
       Reparieren kaputter Dinge.
       
       Das Mobilitätsvorbild meiner Mecklenburger Kindheit waren im Rückblick
       keine Zugezogenen, sondern Edmund aus dem Nachbardorf. Er war einer der
       glücklichsten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Er
       lebte allein in einem kleinen Haus und baute auf den Flächen drum herum an,
       was er und seine Tiere brauchten. Es gab sogar einen winzigen
       Getreideacker. Er hatte kein Auto, aber viele Freunde. Menschen, die ihn
       zum Schnaps einluden und zum Einkaufen mitnahmen. Außerdem gab es ja auch
       keinen Grund, sich sehr weit zu bewegen. Bis ins Nachbardorf fuhr Edmund
       auf seinem Fahrrad, eins dieser DDR-Räder, die klapprig aussehen, aber
       spätestens in den nuller Jahren auf den Flohmärkten zu Gold wurden, weil
       sie sich einfach immer weiter drehen.
       
       Februar 2022. Drei Tage nach Putins Angriff auf die Ukraine nennt
       [3][Christian Lindner die erneuerbaren Energien im Bundestag
       Freiheitsenergien]. Ausgerechnet Lindner, der sich mit 19 Jahren seinen
       ersten Porsche kaufte. Selbst konservative Wirtschaftsmagazine diskutieren
       die Frage, ob wir Putin mit autofreien Tagen schaden können. Ich fühle mich
       genauso hilflos wie alle anderen, wenn ich die Bilder der zerbombten Häuser
       und der fliehenden Menschen sehe. Und ich glaube natürlich nicht, dass mein
       Verzicht auf ein Auto irgendwas verändert.
       
       Aber ich glaube, dass sich etwas verändern muss. Ein grausamer
       Angriffskrieg beweist, wie stark unser fossiler Lebensstil uns abhängig
       macht von Verbrechern. Derselbe fossile Lebensstil, der zu einer Klimakrise
       führt, die nicht irgendwo in der Zukunft liegt, sondern heute schon
       Menschen tötet. Nach der Kernschmelze von Fukushima hat die Bundesregierung
       innerhalb von Wochen den Atomausstieg verkündet. Das, was gerade passiert,
       könnte ein Fukushima-Moment für die Mobilitätswende sein. Stattdessen
       machen Politiker Selfies vor Zapfsäulen, und selbst gut verdienende Pendler
       werden so entlastet werden, dass sie sich ihr täglich Benzin weiter leisten
       können.
       
       Gut, dass ich die Ebay-Kleinanzeigen-App an dem regnerischen Morgen auf dem
       Klodeckel geschlossen habe.
       
       An einem Abend im März 2022, die Tage werden gerade wieder langsam heller,
       schreit unsere Vierjährige im Wohnzimmer. Ich stehe nicht sofort auf, aber
       dann höre ich ihren Bruder rufen und seine Stimme klingt anders als sonst:
       Sie hat sich wehgetan! Als ich sie sehe, wird mir kurz schummrig. Das Blut
       läuft ihr die Stirn herunter, an der Nase vorbei bis zum Kinn. Es ist viel
       Blut. An der Stelle, aus der es kommt, klafft das Gewebe auseinander, wo
       das Loch im Inneren endet, kann man nicht erkennen.
       
       Ich presse einen Waschlappen auf die Wunde, rufe meinem Freund Wortfetzen
       zu. Er reißt unsortierte Medikamentenkästen aus dem Schrank. Offene
       Pflasterpackungen fallen auf den Boden, dann rennt er die Treppe hoch zu
       unseren Nachbarn, Mullbinden besorgen.
       
       Wäre das jetzt der Moment, für den wir ein verdammtes Auto haben müssten?
       Oder ist es, so laut wie mein Herz klopft, gerade richtig, dass ich mich
       auf keinen Fall hinter ein Steuer setze?
       
       Mein Freund ruft einen Krankenwagen.
       
       Ich drücke einen Verband gegen die Stirn meiner Tochter und wickle einen
       zweiten darum, dann halte ich sie auf dem Arm, während sie schluchzt. Als
       ich sie 15 Minuten später in den Rettungswagen hebe, habe ich dieses
       absurde Gefühl. Ich hoffe, es ist nicht schlimm. Aber irgendwie hoffe ich
       auch, dass es schlimm genug ist, dass wir den Krankenwagen gerufen haben.
       Dass uns niemand einen Vorwurf macht, dass wir nicht allein gekommen sind.
       
       Die Ärztin, die die Wunde klebt, will uns über Nacht dabehalten. Am
       nächsten Tag steht mein Freund vor dem Eingang des Krankenhauses. Er hat
       das Klapprad in das Lastenfahrrad gepackt und hebt es jetzt raus. Klack,
       klack, und mein Rad steht auch bereit. Ich setze meine Tochter ins Fahrrad
       und gebe ihr einen Kuss neben ihr riesiges Pflaster. Dann fahren wir los.
       
       18 Apr 2022
       
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   DIR [2] https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2022/_03/_11/Petition_131775.$$$.a.u.html
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