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       # taz.de -- Ostern und die positive Fehlerkultur: Sorry sagen reicht nicht mehr
       
       > Fehler zugeben und hoffen, damit durchzukommen, trendet unter
       > Politiker*innen. Doch gerade an Ostern gilt: Keine Beichte ist umsonst.
       > Vergebung kostet.
       
   IMG Bild: „Niemand tut Gutes, nicht eine Einzige, nicht ein Einziger“, so der früh gendernde Paulus in Röm 3,10
       
       Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass die Grüne Annalena Baerbock an
       Ostern dachte, als sie für ihr Buch die „positive Fehlerkultur“ be- (und
       ab-) schrieb. Und auch die auf Druck zurückgetretene Familienministerin
       Anne Spiegel und der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dürften nicht
       an Urbi et Orbi und die Generalabsolution der Sünden im Sinne des Apostels
       Paulus gedacht haben, als sie jüngst öffentlich Fehler einräumten. Die
       deutsche Politik und ihre positive Fehlerkultur erleben allerdings trotzdem
       gerade so etwas wie ihre ganz persönlichen Karwochen.
       
       Mit ihren öffentlichen Entschuldigungen und der damit verbundenen Hoffnung
       auf Vergebung stehen deutsche Politiker knietief im christlichen
       Schlamassel. Denn so wertvoll die Idee von der Vergebung der Sünden auch
       ist, so ganz umsonst und kostenlos ist auch im christlichen Glauben keine
       Entschuldigung zu haben.
       
       Nur „Sorry“ sagen, dafür dann auch noch Lob erwarten und selber sonst
       nichts weiter tun – das ist sogar für den liberalsten Beichtpriester keine
       Option. Irgendeinen Preis muss man für seine Fehltritte schon zahlen,
       vorher ist an die Wiederherstellung der Reputation nicht zu denken. Und ob
       diese überhaupt möglich ist, entscheidet man darüber hinaus keinesfalls
       selbst: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren
       Schuldigern“, heißt es bekanntlich im Vaterunser.
       
       Dass die Idee der Gnade überhaupt in die Welt kam, das feiern Christen an
       Ostern. Denn Ostern ist das Fest der Zeitenwende schlechthin. Der
       Zeitenwende hin zu einer positiven Fehlerkultur. Und das lange bevor
       Bundeskanzler Scholz den Begriff in die Welt getönt hat.
       
       Nicht nur kann man diese historische Zeitenwende schon am Namenswechsel des
       wichtigsten Ideologen des Christentums ablesen: von Saulus zu Paulus. Bis
       heute werden wir sogar buchstäblich und ständig an die Zeit, die sich
       gewendet hat, erinnert: seit Jesu Gottesbeweis (Auferstehung von den Toten)
       teilen wir unsere Zeit in v. Chr. und n. Chr. Paulus läutete die
       Zeitenwende programmatisch mit nichts weniger als der Neubewertung von
       Sünde und Schuld, von Fehler und Verantwortung ein: Das Zeitalter des
       (jüdischen) Gesetzes galt von nun an als beendet und das Zeitalter der
       Gnade als angebrochen.
       
       Mit der österlichen Auferstehungsgeschichte kam nun also die Idee in die
       Welt, dass Irren menschlich und – so der neue Aspekt – entschuldbar sei.
       Seit Jesu Tod gilt der menschliche Fehltritt als nicht mehr so schlimm wie
       vorher. Ein gesellschaftliches Krisenmanagement betrat die Weltbühne, ohne
       das ein zivilisiertes Auskommen bis heute undenkbar ist: die Gnade.
       
       Für diese philosophiehistorisch, moral- und zivilisationstheoretisch alles
       umkrempelnde Idee legte der selbsternannte Apostel Paulus, der Führer des
       linksradikalen Fundiflügels unter den Anhängern Jesu, mit seiner
       programmatischen Schrift „Brief an die Römer“ den Grundstein. Der Mensch
       sei als Sünder in die Welt gekommen (Vertreibung aus dem Paradies) und
       deswegen könne er für seine Fehler nicht vollumfänglich zur Verantwortung
       gezogen werden. Selbst wenn er sich jeden Tag streng an alle Gesetze halten
       können würde, wie es die jüdische Orthodoxie verlange, helfe das am Ende
       nichts: „Niemand tut Gutes, nicht eine Einzige, nicht ein Einziger“, so der
       früh gendernde Paulus in Röm 3,10.
       
       ## Laster, Sünden, Fehltritte und Fettnäpfe: Alles chico
       
       Für jeden Sterblichen und jede Sterbliche sei mit dem Ostereignis aber nun
       eine „neue Zeit“ angebrochen. Gott sei nicht mehr alttestamentarisch
       zornig, sondern ziemlich guter Dinge und verzeihe fast jedem so gut wie
       fast alle Laster, Sünden, Fehltritte und Fettnäpfe. Mit anderen Worten galt
       seit Jesu Tod: alles chico.
       
       Eine Einschränkung: Bis zur vollständigen Himmelreichwerdung auf Erden, die
       mit der Wiederkehr Jesu (Parusie genannt) erwartet werde, sei es noch ein
       bisschen hin. In dieser Übergangszeit – die sogenannte Parusieverzögerung,
       also die Verspätung Jesu bei seiner Rückkehr zur Erde, die sich bis heute
       zieht – müsse man zunächst noch in einem Provisorium leben. Vorläufig sei
       die göttliche Gnade noch an eine Bedingung geknüpft: die Sünden glaubhaft
       bereuen. Um der Glaubwürdigkeit Nachdruck zu verleihen, sei ein Preis zu
       zahlen: 10 bis 100 Ave Marias, Pilgerreisen, Almosen, Härtetests, diesdas.
       
       Die positive Fehlerkultur aber hat hierzulande mittlerweile dazu geführt,
       dass Politiker und Politikerinnen zur Steigerung von Beliebtheitswerten
       Fehler gestehen, auf dass alle in Verzückung geraten vor lauter Ehrlichkeit
       und darüber vergessen nachzufragen, was daraus genau jetzt folgt. So
       ungefähr muss sich das die Familienministerin Anne Spiegel gedacht haben,
       als sie am Palmsonntag um Entschuldigung für ihr Fehlverhalten bat, ohne
       allerdings die Fehler einzusehen, dafür aber eine Rechtfertigung
       vorbrachte, die auf mildernde Umstände plädierte.
       
       Sie kam damit nicht durch. Sie gab zwar Fehler zu, schob die Verantwortung
       dafür aber dem eigenen Ehemann in die Schuhe. Selbst der korrupteste
       Priester hätte ihr diese Beichte nicht abgenommen.
       
       In Deutschland hatte man sich lange schwergetan, Fehler einzugestehen. Die
       ganze Welt musste die Landsleute bereits zwei Mal mit aller Gewalt dazu
       zwingen, ihren Irrweg aufzugeben, und sogar einen eigenen Straftatbestand
       (Verbrechen gegen die Menschheit) einführen, damit nie wieder vergessen
       werden sollte, was sie getan hatten.
       
       Doch spätestens mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker
       zum 40. Jahrestag der Niederlage der nationalsozialistischen Deutschen am
       8. Mai 1985 war die Zeitenwende eingeleitet: Fehler zugeben könnte sich
       künftig deutlich besser auszahlen, als sie abzustreiten. Jedenfalls dann,
       wenn man wieder wer sein will in der Welt. Wer Fehler eingesteht, darf
       weitermachen.
       
       Und wer noch ein paar mehr Fehler eingesteht, darf sogar wieder
       Führungsrollen beanspruchen. Es funktionierte. Deutschland wurde zum
       Aufarbeitungsweltmeister, zum Großmeister des Sorrysagens und erspielte
       sich mit dem Bekenntnis zu historischer Verantwortung und Beladenheit die
       Wiederherstellung von Vertrauen, wurde führende Industrie- und Moralnation.
       Die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ nannte das der Essayist Eike Geisel
       und meinte es polemisch.
       
       Doch die Nummer zieht nicht mehr. Für ihre Entschuldigung, „wegen unserer
       historischen Verantwortung“ keine Waffen an die Ukraine liefern zu können,
       stieß Annalena Baerbock kurz vor Kriegsbeginn auf große Empörung. Nicht nur
       der Rückgriff auf deutsche Geschichte, sondern auch der Rückgriff auf die
       „positive Fehlerkultur“ stößt mit dem Krieg in der Ukraine an Grenzen.
       
       Dass nicht nur in Osteuropa und nicht mal mehr hinter vorgehaltener Hand
       über die Fehler und die Frage nach der Verantwortung deutscher Politiker am
       Angriffskrieg Putins debattiert wird, scheint Olaf Scholz nicht zu
       beunruhigen. Er ist nur „irritiert“, dass der ukrainische Präsident den
       Bundespräsidenten angeblich nicht sehen wollte. Dabei habe Steinmeier den
       Krieg doch verurteilt.
       
       Nachvollziehbar jedenfalls wäre es, würde die Ukraine einem deutschen
       Politiker, über dessen Rolle im deutsch-putinistischen Verhältnis noch
       lange nicht das letzte Urteil gesprochen ist, eine kostenlose
       Wiedergutwerdung verweigern.
       
       Die natürlichen Grenzen der positiven Fehlerkultur würden wohl jedem klar,
       der sich fragt, was passieren würde, wenn Putin den Krieg beendet und sagt:
       „Sorry, Leute, großer Fehler. Hätte das nicht machen sollen. War schlecht.
       Aber meine Geheimdienstchefs haben mich belogen. Ihr versteht das, oder?
       Lasst ma’ wieder Freunde sein, ich füll euch auch die Gasspeicher drei Mal
       gratis auf.“
       
       Selbst der SPD dürfte schwerfallen, ihm das durchgehen zu lassen. Obwohl:
       Wenn man sich anguckt, was diese Partei gerade veranstaltet, um die
       Verantwortung von sich abzulenken, traut man ihr auch das zu.
       
       Steinmeier hat zwar Fehler „eingeräumt“, aber wenn positive Fehlerkultur
       nicht reines Make-Up bleiben soll, muss noch was kommen. Zwar kann sich
       jeder am Ostersonntag per Livestream vom Papst die Generalabsolution
       erteilen lassen. Für Sünden, die über ein vergessenes Abendgebet und ein
       paar Zweifel an Gott hinausgehen, muss man sich trotzdem noch vor
       weltlichen Institutionen verantworten und einen Preis zahlen.
       
       Hätte der auf Vergebung hoffende Bundespräsident Steinmeier nicht düpiert
       auf die vermeintliche Ausladung Selenskis reagiert, sondern aus seiner
       Hosentasche einen Zettel gezogen, auf dem die Verladung all der Waffen, die
       die Ukraine von Deutschland erbittet, ins Zustellfahrzeug bestätigt und das
       anvisierte Zeitfenster für die Zusendung eingetragen und vom Kanzler
       unterschrieben gewesen wäre, und darüber hinaus noch die Einrichtung einer
       Aufarbeitungskommission zur Frage der Verantwortung deutscher Politiker und
       Politikerinnen für den Angriffskrieg Putins bestätigt – jeder
       Beichtpriester hätte sagen müssen: „Frank-Walter, der Herr hat dir deine
       Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.“
       
       16 Apr 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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