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       # taz.de -- Menschenfeindlicher Stadtverkehr: Vielköpfige Monster auf der Straße
       
       > Jedes Kind lernt, noch bevor es flüssig sprechen kann: Weil die Autos so
       > gefährlich sind, haben sie mehr Rechte.
       
   IMG Bild: Der ADFC stellt „Geisterräder“ auf, wo Radfahrer tödlich verunglückten
       
       Unter den menschenfeindlichen Kreuzungen Berlins ist die Kreuzung
       Mollstraße/Otto-Braun-Straße hinterm Alexanderplatz fraglos eine der
       menschenfeindlichsten. Wobei die Konkurrenz in Berlin wirklich hart ist.
       Die Kreuzung ist so groß wie ein ostwestfälischer Ortskern; außer
       unzähligen Fahrspuren begegnen sich hier auch zwei Tramstrecken.
       
       Der junge Vater steht mit seinem vermutlich zweijährigen Sohn an der Ampel,
       das Kind in Stiefelchen mit Leucht-Applikationen auf einem dieser
       Mini-Roller, die sie jetzt alle haben. Tief beugt der Vater sich hinunter,
       als er den Roller bei Grün anschieben will, aber der Kleine will alleine.
       Der Vater trabt los, zeigt auf das grüne Männchen in der Ampel:
       „schnell-schnell“ – und sieht nicht, dass das Kind mit dem Roller hinter
       ihm stürzt.
       
       Die anderen FußgängerInnen sind schon vorbei, [1][die Ampel springt auf
       Rot], und jetzt erst dreht der Vater sich um, der Kleine rappelt sich auf,
       und wir, die wir im Fahrradpulk stehen, sehen dem Schauspiel zu, ob der
       Mann es schafft, sein Kind zu retten, bevor die Viererreihe Autos sich
       gleich einem vielköpfigen Monster auf die beiden stürzt, um sie zu
       verschlingen. Was nicht passieren wird, schon klar. Nur mein Puls rattert,
       als sei es denkbar.
       
       [2][Die verdammte Ampelschaltung ist dazu programmiert], die Menschen unter
       Hochdruck zu setzen, die ohne Auto unterwegs sind. Zweijährige, die ja auf
       „Aber nur bei Grün!“ dressiert werden, sollen beim Überqueren der Straße
       Panik bekommen, sollen gar nicht erst das Gefühl entwickeln, dass sie die
       Straße überhaupt überqueren dürfen, immer springt das Licht für sie sofort
       wieder auf Rot – Rot für „Was willst du hier überhaupt“, Rot für „Kann dein
       Vater dich nicht mit dem Auto zur Kita bringen“, Rot für „Lauf um dein
       Leben“.
       
       ## Autos sind gefährlich
       
       Und deshalb braucht so ein Vater samt Kind auch bis zu zehn Minuten zur
       Querung der Kreuzung, wo jede Autofahrerin nach „einmal kurz warten“
       drüberrauscht, und der Grund lautet, dass AutofahrerInnen nicht lange
       warten müssen sollen. Erstens nehmen sie im Stau noch mehr Platz weg also
       ohnehin schon, und zweitens ist es ja auch für alle am Straßenrand besser,
       dass die Autos sie nicht so lange volldieseln, sondern zügig weiterfahren
       können. Jedes Kind lernt, noch bevor es flüssig sprechen kann: Eben weil
       die Autos so gefährlich sind, haben sie mehr Rechte.
       
       Dass all dies für so normal gehalten wird, macht es übrigens nicht
       leichter, es überhaupt aufzuschreiben. Was ein Problem der Diskussion übers
       Auto generell ist: Zwar haben Klima, Umwelt und Planetenrettung zuletzt
       einen bemerkbaren Aufstieg in der öffentlichen Tagesordnung erlebt. Doch
       hinterm Stichpunkt Auto herrschen praktisch noch die Verhältnisse der 80er
       Jahre: Autos waren, sind und werden sein, und wer etwas anderes sagt, hat
       verloren.
       
       Jedes Mal, wenn irgendwoher ein politisches Lüftchen weht, das den Wahnsinn
       wenigstens mildern würde, müssen unglaublich viele Menschen plötzlich
       entweder täglich die gebrechliche Großmutter zur Physiotherapie oder die
       Waschmaschine zur Reparatur fahren. An der Kreuzung Moll/Otto-Braun kann
       ich morgens weder Großmütter noch Waschmaschinen in den Wagen erkennen.
       
       Dafür aber Leute, die, als der Vater sein Kind vom Asphalt sammelt,
       schnell-schnell, mit dem Fuß schon mal ganz sacht aufs Gas tippen. Denn
       darum geht es ja: zu zeigen, wer hier die Macht hat.
       
       17 Apr 2022
       
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