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       # taz.de -- Tod eines Obdachlosen in Amsterdam: Eine Trauerfeier für Wolf
       
       > Nach dem Tod eines obdachlosen Mannes trauert seine Nachbarschaft,
       > verabschiedet ihn mit Liedern und Blumen. Was sagt das über Amsterdam
       > aus?
       
   IMG Bild: Wolf, hier seine Schuhe bindend, war bekannt als stille und freundliche Seele
       
       Amsterdam taz | Unten auf dem Fluss treiben Blumen. Für Wolf. Die, die sie
       ins Wasser warfen, stehen am Stenen Hoofd, der einzigen Grünfläche am
       durchgentrifizierten Ufer des Ij. Ein Glas in der Hand, Abendsonne scheint,
       der Wind trägt Musik, Ground control to Major Tom. Es ist keine
       Freundesgruppe, zumindest nicht im eigentlichen Sinne, die sich an diesem
       Abend hier versammelt hat. Rund 50 Leute verabschieden sich von jemandem,
       den sie eigentlich kaum kannten: Wolf.
       
       „Sein Straßenname“, sagte Cody, ein Ladenbetreiber aus der Nachbarschaft,
       der eben die Trauerrede hielt. „Sein richtiger Name war Lars Pelzer, er kam
       aus einer kleinen Stadt aus der Nähe von Köln. Geboren wurde er 1982, seit
       vier Jahren lebte er in Amsterdam.“ Viel mehr weiß Cody nicht, außer, dass
       Wolf als Kind mit seinen Eltern in Afrika lebte, irgendwann auf ein
       Internat in Deutschland ging, wo es ihm nicht gefiel. Dass Wolf Asthmatiker
       war, das Leben auf der Straße darum extra beschwerlich. Ein Asthma-Anfall
       war Anfang April fatal.
       
       „Dazu bekam er noch einen epileptischen Anfall. Der Krankenwagen kam zu
       spät, um ihn zu retten. Wolf lag noch eine Woche im Krankenhaus, aber da
       war er schon hirntot“, erzählt Bien. Sie wohnt auf dem Haarlemmerdijk, im
       Westen des Amsterdamer Zentrums, wo Wolf regelmäßig vorbeikam. Als sie
       hörte, dass er im Krankenhaus lag, ging sie mit Freund*innen dorthin. Sie
       verbrachte die letzte Nacht an seinem Bett und war bei ihm, als er starb.
       „Niemand darf alleine sterben“, ist ihre feste Überzeugung.
       
       Bien ergriff auch die Initiative zur Abschiedsfeier. „Wir sind sehr
       betrübt, Euch mitzuteilen, dass Wolf letzten Dienstag morgen um 11.55 Uhr
       verstorben ist“, heißt es auf den Aushängen im Viertel. „Viele von euch
       erinnern sich an Wolf als eine freundliche Seele, die mehrmals am Tag mit
       einem Lächeln über den Haarlemmerdijk humpelte.“ Das Humpeln kam durch eine
       Fußverletzung. Eines von Wolfs Merkmalen neben dem langen,
       zusammengebundenen Haar, dem Bart, der dürren Gestalt – still, aber mit
       selbstsicherer Klugheit.
       
       ## Zahl der Wohnungslosen verdoppelt
       
       Das mit der sanften, freundlichen Seele bestätigen alle, die hier sind.
       Etwas davon liegt nun über dieser Szene am Fluss. Charlie, ein Engländer,
       trägt ein Gedicht mit dem Titel „A wolf on the wind“ vor, über das Heulen
       eines Wolfs in einer Frühlingsnacht, die Weisheit in den Augen des Toten
       und dass er durch seinen Tod Menschen zusammenbringt.
       
       Bemerkenswerte Worte sind das, über diesen Einzelkämpfer am Rande der immer
       härter werdenden Leistungsgesellschaft. Der, wie jemand sagt, nie um Hilfe
       bat und sie nur akzeptierte, wenn es nicht anders ging. Tatsächlich kennen
       sich die meisten hier nicht, alle haben nur ihre persönliche
       En-passant-Beziehung zu Wolf. Schafft das eine Verbindung? Es scheint so.
       
       Sagt es etwas über eine Stadt aus, dass 50 Leute von einem Wohnungslosen
       Abschied nehmen, der ein winziger, aber regelmäßiger Teil ihres Alltags
       war? Bien hätte nicht gedacht, dass ihr Aufruf so ein Echo findet.
       Bootmacher Olaf aus dem Sauerland, der schon so lange hier lebt, dass er
       selbstverständlicher niederländisch als deutsch redet und selbst einige
       Zeit auf der Straße verbrachte, findet, dass es durchaus mit einer gewissen
       Amsterdamer Mentalität zu tun hat.
       
       Die Zahl der Wohungslosen in den Niederlanden hat sich in den 2010er-Jahren
       verdoppelt, von [1][17.000 auf mehr als 30.000]. Die Coronakrise führte
       nicht nur dazu, dass noch mehr Menschen ihr Zuhause verloren, auch die
       Plätze in Notunterkünften wurden reduziert, sagt Bien. Viele, die an ihren
       festen Plätzen vor dem Supermarkt Straßenzeitungen verkauften, sind seit
       der Pandemie verschwunden. Niemand weiß, wohin.
       
       Was Wolf betrifft, erreichen Bien noch immer täglich Berichte von Menschen,
       die ihn vermissen. Sie selbst denkt, er könne jeden Moment irgendwo um die
       Ecke kommen.
       
       21 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.cbs.nl/en-gb/news/2019/34/homelessness-more-than-doubled-since-2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
       ## TAGS
       
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