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       # taz.de -- Fehlerkultur in der SPD: Die Identität wankt
       
       > Sigmar Gabriel gibt zu, die russische Gefahr unterschätzt zu haben. Für
       > die SPD wird es dennoch nicht einfach, Vertrauen und Ansehen
       > zurückzugewinnen.
       
   IMG Bild: Liebevolle Blicke: Sigmar Gabriel und Wladimir Putin bei einem Gespräch 2017
       
       Das Osterwunder des Jahres 2022 lieferte Sigmar Gabriel: Der Ex-SPD-Chef,
       bisher vor allem fürs Austeilen bekannt, übte Selbstkritik. Die russische
       Gefahr unterschätzt zu haben, sei „eine berechtigte Kritik, die sich die
       allermeisten von uns in der Politik gefallen lassen müssen“, schrieb er
       [1][in einem Gastbeitrag für den Spiegel]. „Es war ein Fehler, bei den
       Einwänden gegenüber Nord Stream 2 nicht auf die Osteuropäer zu hören. Das
       war auch mein Fehler“, sagte er wenige Tage später der Welt.
       
       Nun gut, nicht jeden konnte Gabriel damit überzeugen – was vor allem daran
       lag, dass er seine Selbstkritik direkt mit Gegenangriffen garnierte und dem
       ukrainischen Botschafter die Verbreitung von Verschwörungstheorien vorwarf.
       Zu hoch darf man den Anspruch an die Vergangenheitsbewältigung in der SPD
       aber auch nicht legen: Es ist erst acht Wochen her, dass sich mit dem
       [2][russischen Überfall auf die Ukraine] jahrelange Grundsätze
       sozialdemokratischer Außenpolitik als Irrtum erwiesen. Mit Verweis auf
       Willy Brandt und dessen Ostpolitik hatte die Partei diese Grundsätze stets
       historisch überhöht. Bei der Aufarbeitung eigener Fehler im Umgang mit
       Russland gerät also ein Kern sozialdemokratischer Identität ins Wanken.
       Kein Wunder, dass sich die SPD nur langsam rantastet.
       
       Zumal manch überzogener Angriff von außen die Bereitschaft zur
       schonungslosen Selbstkritik sicherlich nicht fördert. Unter Beteiligung der
       SPD haben deutsche Regierungen die Abhängigkeit Deutschlands von Russland
       vergrößert und damit die Rahmenbedingungen für diesen Krieg verbessert,
       keine Frage. Sie haben aus einer Mischung aus Naivität und Gier nach
       günstigen Rohstoffen falsche Entscheidungen getroffen. Intendiert haben sie
       den Krieg damit aber nicht; die direkte Verantwortung liegt allein bei der
       russischen Regierung. Deutschlands Fehler haben auch nicht die
       Sozialdemokraten allein begangen, Konservative und Wirtschaftsvertreter
       waren ebenfalls beteiligt – sie neigen nur aus Tradition weniger stark zur
       Selbstkritik und geraten somit auch jetzt nicht in den Fokus.
       
       Und schließlich: Wohlfeil ist es, mit dem Wissen von heute sämtliches
       sozialdemokratisches Handeln der Vergangenheit zu verdammen. Zum Beispiel
       das endlose Festhalten am Minsker Prozess zum Krieg in der Ostukraine, der
       eine politische Lösung anstrebte: Rückblickend war er zum Scheitern
       verurteilt, Anzeichen dafür mag es über Jahre gegeben haben. Gewissheit
       lieferte aber erst der 21. Februar, an dem Wladimir Putin die
       selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk anerkannte. Bis dahin
       hatten auch Paris, Kiew und am Ende sogar die neue grüne Außenministerin,
       Annalena Baerbock, in Berlin die Hoffnung auf den Erfolg des Minsker
       Abkommens nicht aufgegeben.
       
       ## Alte Stärke – und der Kollaps
       
       Damit aber fürs Erste genug des Verständnisses für die SPD und ihre
       schwierige Vergangenheit. Immerhin sitzt sie nicht in der Opposition, wo
       sie ihre Verhältnisse in Ruhe ordnen könnte. Sie ist ironischerweise gerade
       in dem Moment zu alter Stärker zurückgekommen, in dem der Kollaps ihrer
       Ostpolitik seinen Lauf nahm. Sie sitzt in der Verantwortung, selbstgewählt,
       und muss jetzt mit den Folgen ihrer unbewältigten Fehler zurechtkommen.
       Zuerst: mit dem immensen Misstrauen – ob sie es für ungerecht hält oder
       nicht.
       
       Das Misstrauen schlägt der SPD entgegen in der Bewertung der deutschen
       Reaktion auf den Krieg. Die ist im internationalen Vergleich faktisch
       mittelmäßig. Ein sofortiger Energieboykott scheitert innerhalb der EU nicht
       ausschließlich an der Bundesregierung, aber auch an ihr. Waffen liefert sie
       bislang schon in nicht unwesentlichem Umfang, in Zukunft kommen über einen
       Ringtausch mit Slowenien offenbar auch Panzer hinzu. Manche Nato-Staaten
       machen bisher mehr als das, manche weniger.
       
       ## Das Sondervermögen als Streckversuch
       
       Trotzdem schlägt speziell der Bundesrepublik international die größte
       Kritik ob ihrer vermeintlichen Passivität entgegen. So wie national die
       Zweifel an der Führungsstärke des SPD-Kanzlers Scholz zunehmen, während die
       Umfragewerte der Grünen-MinisterInnen Habeck und Baerbock steigen –
       obgleich sie alle zusammen ein und dieselbe Regierungspolitik tragen. Wer
       in der Vergangenheit richtig lag, trägt jetzt einen Vorrat an Vertrauen mit
       sich. Wer falsch lag, steht dagegen unter besonderer Beobachtung. Er müsste
       sich schon ordentlich strecken, damit mal etwas genug ist.
       
       Als Olaf Scholz vier Tage nach Kriegsbeginn [3][das Sondervermögen für die
       Bundeswehr] ankündigte, war das so ein Streckversuch. Dessen Effekt
       verpuffte aber, weil die 100 Milliarden nicht dazu gedacht sind, den Krieg
       in der Ukraine zu beenden, die grausamen Nachrichten von dort aber nicht
       abreißen. Was bleibt sonst? Personelle Konsequenzen für diejenigen in der
       Partei, die besonders daneben lagen – [4][Stichwort Manuela Schwesig] –
       will die SPD nicht ziehen. Für starke Symbole aus der Kategorie Kniefall
       ist Olaf Scholz nicht der Typ. Demut im Ton, Gelassenheit bei Kritik sind
       auch keine Stärken der Sozialdemokratie. So schnell wird das Vertrauen also
       nicht zurückkommen.
       
       Innenpolitisch ist das verkraftbar, auch wenn die Union unter Friedrich
       Merz den Druck erhöht. Außenpolitik hat schließlich selten eine Wahl
       entschieden. International aber ist die Sache schwieriger: Frisch im Amt
       hat der Kanzler schon an Ansehen verloren, bevor er sich überhaupt welches
       zulegen konnte. Für gewöhnlich kostet so etwas Einfluss – nicht nur in
       Fragen des Krieges.
       
       22 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sigmar-gabriel-wir-brauchen-zumindest-einen-kalten-frieden-gastbeitrag-a-411895f4-557e-42e7-9453-c62baa490d82
   DIR [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [3] /Mehr-Mittel-fuer-die-Bundeswehr/!5835013
   DIR [4] /Umstrittene-Gazprom-Stiftung/!5845244
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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