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       # taz.de -- Haare und Identität: Haarlose Frauen tragen ein Stigma
       
       > Die Debatte um die Ohrfeige bei den Oscars zeigt: Frauen, die
       > unfreiwillig eine Glatze haben, sind in unserer Gesellschaft ein Niemand.
       
   IMG Bild: Jada Pinkett Smith bei der Party des Modemagzins Vanity Fair während der Academy Awards am 27. März
       
       Ein Mann macht sich über die Frau eines anderen Mannes lustig. Und wie
       reagiert der Mann, der der Frau nahe steht, auf deren Kosten gelacht wird?
       Egal wie, eines steht fest: Die Frau ist die Verliererin.
       
       Ignoriert ihr Mann den Vorfall, hat er sich mit dem Angreifer solidarisiert
       und damit indirekt über sie mitgelacht. Interveniert er verbal, ist er der
       Spielverderber. Attackiert er aber den Angreifer und schlägt zu, reden alle
       nur noch über die beiden Männer.
       
       So geschehen ist das kürzlich, als der Schauspieler Will Smith dem
       Moderator der Oscar-Verleihung, Chris Rock, in Hollywood [1][eine Ohrfeige
       verpasste]. Rock hatte vor laufender Kamera einen Witz über die Glatze von
       Jada Pinkett Smith, Will Smiths Ehefrau, gemacht. Dass diese nicht
       freiwillig ohne Haare herumläuft, sondern eine Krankheit die Ursache ist,
       hätte er wissen können, weil Jada Pinkett Smith öffentlich darüber spricht.
       Medial ist der geohrfeigte Moderator nun das Opfer. Und Will Smith, der
       zehn Jahre lang nicht mehr zu den Oscar-Verleihungen darf.
       
       Die eigentliche Opfergruppe aber, die Frauen ohne Haare, für die Jada
       Pinkett Smith stellvertretend steht, verschwinden aus der öffentlichen
       Wahrnehmung. Es ist eine armselige Geschichte. Eine, [2][in der nicht über
       die Männer hinausgedacht wird]. Eine Story, die an der Realität der Frauen
       vorbei zielt und nur die Hälfte erzählt.
       
       Haare von Frauen sind Schmuck, Zeichen für Weiblichkeit, Sinnlichkeit und
       Sexualität. Sie stehen für Identität, und sie sind auch ein
       Wirtschaftsfaktor. Ende 2020 gab es [3][236.309 Friseur:innen] in
       Deutschland.
       
       Frauen ohne Haare sind ein anderes Thema, eines, an dem Friseur:innen
       nichts verdienen, eines, an dem stattdessen ein Tabu hängt. Am Tabu kann im
       Umkehrschluss gezeigt werden, warum Haare bei Frauen so wichtig sind. So
       wichtig, dass sie in manchen Religionen bei orthodoxer Auslegung, wie im
       Islam, im Judentum und auch von christlichen Nonnen, versteckt werden
       müssen, weil sonst fremde Männer enthemmt werden.
       
       ## Unfreiwillige Glatze
       
       Die allermeisten Frauen, die sich für eine Glatze entscheiden, tun es nicht
       freiwillig. Sie haben, wie Jada Pinkett Smith – oder auch wie meine Mutter
       – eine Krankheit. Bei Smith ist es kreisrunder Haarausfall. Sie ist nicht
       die einzige Frau, die ungewollt ihr Haar verliert. [4][Etwa 20 Prozent]
       aller Frauen in Deutschland sind laut des Bundesverbandes der
       Zweithaar-Spezialisten von Haarausfall betroffen. Bei meiner Mutter ist es
       die Folge einer Chemotherapie. Zwar sollen, werden die Medikamente
       abgesetzt, die Haare wieder wachsen. Aber es gibt Ausnahmen. Meine Mutter
       ist eine.
       
       Frauen, die wie sie unfreiwillig eine Glatze tragen, tragen auch ein
       Stigma. Stigma ist griechisch und bedeutet Wunde. In der Soziologie
       beschreibt der Begriff einen Makel, ein Defizit. Laut Erving Goffman
       entsteht bei Personen, die ein Stigma tragen, eine Diskrepanz zwischen
       ihrer „virtualen Identität“, also dem, was sie sein sollten, und dem, was
       sie sind.
       
       Meine Mutter verdeckt ihre Glatze mit einer Perücke, sobald sie das Haus
       verlässt. Vor dem Hintergrund von Goffmans Theorie ist die Perücke ein
       Versuch, das Stigma zu beseitigen, eine Technik der „Bewältigung
       beschädigter Identität“, wie es in dem Untertitel seines Buches „Stigma“
       heißt.
       
       Steht meiner Mutter aber doch eigentlich ganz gut, die Glatze, sage ich
       manchmal. Ich finde, dass sie eine schöne Kopfform hat. Und ich sage ihr:
       „In Berlin könntest du auch mit der Glatze rumlaufen.“ Es gibt immer wieder
       Initiativen und [5][Fotoausstellungen] von haarlosen Frauen, die zeigen,
       dass Frauen ohne Haare schön und sexy sind. Meine Mutter lebt aber auf dem
       Dorf, wo die Bevölkerung an Traditionen und alten Rollenbildern festhält.
       Und meine Mutter hasst ihre Glatze.
       
       ## Jubeln und Weinen
       
       Es geht bei der Glatze nicht nur um eine Äußerlichkeit. Es geht nicht nur
       darum, wie andere sie wahrnehmen, sondern auch darum, wie meine Mutter sich
       selbst wahrnimmt. Es geht um ihre Identität. Als sie mich kurz nach der
       Oscar-Preisverleihung und ihrem medialen Höhepunkt, der Ohrfeige, anrief,
       sagte sie, sie hätte jubeln können, obwohl sie geweint habe. „Will Smith
       hat nicht nur seine kranke Frau verteidigt, sondern auch mich.“ Geweint
       habe sie übrigens über die Debatte danach. Weil diese ihr zeigte, dass
       Frauen wie sie in der Gesellschaft ein Niemand sind.
       
       Dass meine Mutter weint, hängt auch an den gesellschaftlichen Bildern, die
       mit Glatze tragenden Frauen verbunden sind, wie etwa die Assoziation mit
       Chemotherapie und Krebs. KZ-Häftlingen wurden im Zweiten Weltkrieg [6][die
       Haare abrasiert] – als Akt der Erniedrigung. Und auch Kollaborateurinnen in
       Frankreich – als Strafe für ihre Zusammenarbeit mit dem Feind.
       
       Dass Frauen unfreiwillig ihre Haare abgeschnitten werden, ist ein Akt der
       Entwürdigung und Unterdrückung, der sich in unser historisches Gedächtnis
       eingebrannt hat. Bis heute. Meine Mutter schickte mir nach unserem
       Telefonat kommentarlos Bilder aus der Ukraine, die dieser Tage um die Welt
       gehen: Fotos von Soldatinnen, denen vor der Freilassung aus russischer
       Gefangenschaft die Haare abrasiert wurden.
       
       Das Haar galt in der Antike als Symbol der Lebenskraft und als Sitz der
       Seele. Daran hat sich kaum etwas geändert. Haare gelten als relevant für
       die Persönlichkeit. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Sozialpsychologe
       Reinhold Bergler in einer [7][empirischen Untersuchung]. Laut Bergler ist
       das Haar für den ersten Eindruck entscheidend. Es fördert Sympathie oder
       Antipathie.
       
       Haare seien „für den Menschen in seiner ganzen Geschichte keine
       Randerscheinung seines Äußeren gewesen, sondern sie sind ein entscheidendes
       Element menschlichen Selbsterlebens, menschlicher Selbstdarstellung, aber
       auch und wesentlich menschlicher Fremdwahrnehmung und Fremdbeurteilung“,
       [8][schreibt er in einem Aufsatz].
       
       ## Haare machen Frauen
       
       „Kleider machen Leute“ heißt es. Es könnte auch heißen: Haare machen sie.
       Für Frauen gilt das umso mehr, weil kulturhistorisch Vorstellungen von
       Weiblichkeit und Sexualität damit verbunden wurden. „Man kommt nicht als
       Frau zur Welt, man wird es“, lautet der wohl berühmteste Satz von Simone de
       Beauvoir. Haare machen nicht nur Leute. Haare machen in unserer
       Gesellschaft auch Frauen.
       
       Dass das Haar besonders für Frauen so essenziell ist, als Ausdruck ihrer
       Sinnlichkeit und ihres Standings in der Gesellschaft, zeigen sogar Märchen.
       Rapunzel, lass dein Haar herunter. In der Erzählung, die Generationen von
       Kindern vorgelesen wurden, [9][steht das kräftige Haar für Macht].
       
       Noch älter: Die Schlangengöttin Medusa aus der griechischen Mythologie. Die
       Schöne wurde von Athene verflucht, nachdem Poseidon sie, wie es in einigen
       [10][Versionen des Mythos] heißt, vergewaltigt hat. Was wird in Schlangen
       verwandelt? Ihr Haar.
       
       Heute werden gesellschaftliche Bilder nicht mehr im Märchen oder Mythos
       tradiert, sondern im Fernsehen gemacht. Bei Veranstaltungen wie der
       Oscar-Verleihung werden modische Standards gesetzt. Dass Jada Pinkett Smith
       sich dort mit Glatze zeigt, ist mutig. Ihr Auftritt hätte das Potenzial
       gehabt, etwas zu ändern, das Bild von Glatze tragenden Frauen hätte sich
       normalisieren können. Die Oscar-Verleihung hätte der Stigmatisierung etwas
       entgegensetzen können. Stattdessen wird nur über die Ohrfeige gesprochen.
       
       Natürlich gehört Gewalt verurteilt. Natürlich hätte Will Smith den
       Witzemacher zur Rede stellen und nicht angreifen sollen. Aber: Hätte Will
       Smith nicht eingegriffen, wäre die Bemerkung von Chris Rock einfach so
       stehen geblieben. Er hätte betroffenen Frauen, die auf der ganzen Welt vor
       dem Fernseher sitzen, gezeigt, was passiert, wenn sie ihre Perücke
       abnehmen: öffentliche Erniedrigung. Gut, dass es nicht so war.
       
       23 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /94-Oscar-Verleihung-mit-Ohrfeige/!5841590
   DIR [2] /Oscar-Verleihung-und-Vorbilder/!5848463
   DIR [3] https://imsalon.de/branchen-news/branche-detailseite/die-friseurbranche-in-zahlen-wie-viele-friseure-gibt-es-in-deutschland/
   DIR [4] http://bvz-info.de
   DIR [5] https://www.indeon.de/gesellschaft/frauen-mit-glatze-tabuthema
   DIR [6] http://media.offenes-archiv.de/Poppenbuettel_AnkunftEntwuerdigung.pdf
   DIR [7] https://www.br.de/themen/ratgeber/inhalt/gesundheit/haare-haarausfall-pyschologie100.html
   DIR [8] https://www.google.de/books/edition/Haare/HX0kBgAAQBAJ?hl=de&gbpv=1&dq=Reinhold+Bergler+haare&pg=PA12&printsec=frontcover
   DIR [9] https://streethair.wordpress.com/2014/09/22/2726/
   DIR [10] https://griechische-mythologie.fandom.com/wiki/Medusa
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea De Gregorio
       
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