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       # taz.de -- Die Wahrheit: Putin heißt des Friedens Morgenrot
       
       > Besuch in Lissabonski: Im Jahr 2052 hat der Russki Mir des ewigen
       > Großwesirs Dmitri Medwedew Eurasien glücklich vereint.
       
       Olá, come estáschinski?“, begrüßt uns Ludmilla im „Russkopa“ genannten
       hochmodernen Jugendslang, der neuen Lingua franca, in der sich die Europäer
       zwischen der Algarve und Kamtschatka neuerdings akkuratski verständigen.
       Die dunkeläugige Bilderbuch-Portugiesin wurde eigens vom Moskauer
       Informationsministerium für unsere Siegesreportage als Gesprächspartnerin
       ausgesucht – bei einem Besuch in Lissabonski, der früheren portugiesischen
       Hauptstadt und heutigen Westmetropole des russischen Protektorats Hispanja.
       
       Wir treffen die studierte Hausfrau im ehemaligen Café Brasileira, das jetzt
       Café Sibiria heißt. Dort wird selbstverständlich nicht mehr „Galao“
       getrunken, „Tosta mista“ ist zum Glück längst vergessen, es gibt leckeren
       Muckefuckinski zu beinhartem Schwarzbrot aus Nowosibirsk. Und die früher
       berühmten süßen „Bolas de Berlim“ sind nicht mehr den beim letzten
       Atomangriff verdampften „Berlinern“ nachempfunden, sondern gehen
       logischerweise jetzt als zuckerfreie „Petersburger“ über den Tresen. Besser
       für die Zähne ist es allemal, wie das Moskauer Gesundheitsministerium auch
       hierzulande nicht müde wird, auf mächtigen Werbetafeln zu erklären.
       
       Ludmilla hat sich inzwischen auf die Bank vor dem Café gesetzt. Die Figur
       des einstigen Nationaldichters Fernando Pessoa ist einem herrlich
       anzusehenden Abbild des gemütlichen Väterchens Stalin gewichen, der vom
       Viertel Chiado aus über das rege Treiben in den verwinkelten Gassen
       Lissabonskis zu wachen scheint. Ludmilla gibt uns eine schulbuchmäßige
       Geschichtsstunde: „Ihr habt noch im Zeitalter der Krisen gelebt“, ereifert
       sich die 32-Jährige, die im neuesten Moskauer Schick gekleidet ist.
       „Elfterseptember, Finanzkrise, Corona – eine Krise nach der anderen reihte
       sich in den krassen Zeiten der Demokratinskis aneinander. Erst mit dem
       großen Führer Putin kamen Frieden und Freiheit!“, ist sie ganz auf Linie
       des gütigen Kremls.
       
       Gayropa ist glücklicherweise Geschichte. Vor dreißig Jahren schrieb der
       große Dmitri Anatoljewitsch Medwedew seinen legendären Satz, es müsse einen
       „eurasischen Frieden von Lissabon bis Wladiwostok“ geben. Nun ist der
       Russki Mir da, nachdem er vor einer Generation im Zweiten Ukrainischen
       Krieg, der erst seit kurzer Zeit frei von der Seele weg Krieg genannt
       werden darf, im Jahr 2025 errungen wurde. Als der legendäre Führer Wladimir
       „Woschd“ Putin seinen zarten Finger auf den Atomknopf legte und die just
       gewählte amerikanische Präsidentin Ivanka Trump sich entschloss, keine
       treffende Antwort zu geben, sondern lieber das amerikanische Militär und
       seine Waffen zurückzog aus Europa.
       
       ## Eine bessere Welt zum Träumen
       
       Im Jahr 2052 ist Amerika nur noch eine schlichte Regionalmacht, während die
       beiden verbliebenen Weltmächte Russland und China erfolgreich kooperieren
       und zwei Drittel der Menschheit zu ihrem Besten beherrschen. Eine Welt, von
       der man vor Jahrzehnten nur träumen durfte und die wahrlich besser geworden
       ist als das viel zu lange schwache demokratische Europa.
       
       Ob sie denn irgendetwas aus der Zeit vor der ersehnten Einheit vermisse,
       fragen wir Ludmilla. „Nichts, absolut nichts! Was sollte mir auch fehlen?
       Außer unserem großen Führer“, bricht sie in Tränen der Trauer aus. Denn
       noch immer befinden wir uns im staatlich verordneten einjährigen Trauerjahr
       für den geliebten Führer des vorbildlichen russischen Reiches, den
       verehrten Ewigen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin, der vor Kurzem
       im biblischen Alter von 99 Jahren in seinem gigantischen Ruhesitz in
       Sotschi friedlich das Zeitliche segnete. Erst zu Beginn der fünfziger Jahre
       hatte er nach einer sagenhaft gelungenen, mehr als 40-jährigen Amtszeit
       freiwillig die Macht an den im Volksmund „Großwesir“ genannten Dmitri
       Medwedew weitergegeben.
       
       Im jugendlichen Alter von 86 Jahren ist Medwedew heute auf dem Höhepunkt
       seiner Macht und wird bereits ähnlich intensiv verehrt wie sein
       unvergleichlicher Vorgänger. Was sich auch im Lissabonskier Stadtbild
       zeigt, wo kürzlich erst auf dem zentralen Praça do Comércio Russco neben
       der obligatorischen Putin-Statue ein etwas kleineres Medwedew-Denkmal
       errichtet wurde. Ein Ensemble, das im grobzüngigen portugiesischen
       Volksmund liebevoll „Batmanski & Robinje“ heißt.
       
       Im Barrio Alto sind die Schwulenbars erfreulicherweise geschlossen,
       kräftige russische Matrosen und andere kernige slawische Kerle beherrschen
       stattdessen das Bild in den reinen Männerlokalen, wie ein Spaziergang den
       Altstadthügel hinauf zeigt. Frauen sind im Nachtleben nicht gern gesehen,
       die Küche ist und bleibt neben der Kirche ihr angestammter Platz, bestätigt
       Ludmilla.
       
       Oben angekommen, ist auf der gegenüberliegenden Seite der Tejo-Mündung das
       berühmte, in der einbrechenden Dämmerung weithin leuchtende Monument zu
       sehen. Zu Ehren des Woschd wurde schon vor zwanzig Jahren die riesige Figur
       des „Christo Rei“ umgemeißelt in einen „Putin Rei“, der nachts in den
       lieblichen russischen Staatsfarben blau-weiß-rot erstrahlt und neben der
       alten Europabrücke, die inzwischen „Brücke des eurasischen Friedens“ heißt,
       am Westende des Kontinents die ankommenden Seefahrer aus aller Welt
       herzlich begrüßt. Putin heißt des Friedens Morgenrot.
       
       ## Kein Platz für Traurigkeit
       
       „Zum Glück ist Saudade genauso wie Fado verboten“, erklärt Ludmilla auf
       beeindruckende Weise ihr Lebensgefühl. Für Traurigkeit oder melancholische
       Musik sei im herrlichen russischen Reich des positiven Balalaika-Rapski
       Moskauer Prägung kein Platz mehr. Und dann rasselt die ordentlich
       gekleidete junge Frau die Namen einiger angesagter Sänger und Bands
       herunter, die das Kulturministerium in Moskau für die unverbrüchliche
       Erbauung der Jugend zugelassen hat. „Putin, Putin, Präsident der Herzen“,
       summt sie eine der eingängigen Melodien für Russopas hippen Nachwuchs. Seit
       elf Jahren Nummer eins der Hitparadski.
       
       In Ludmillas begeisterter Fürsprache für das System Kreml zeigt sich wieder
       einmal: Pure Freude und abgrundtiefe Zufriedenheit über den kulturellen wie
       pekuniären Reichtum aller Eurasier sind zu Recht die einzigen zugelassenen
       Gefühle. Von den Russen glücklich sein lernen heißt siegen lernen, wissen
       mittlerweile auch die lange Zeit von Europa vernachlässigten und
       zurückgestoßenen Portugiesen, die sich, wenn auch auf einem äußerst
       niedrigen Niveau als sogenannte Randrussen, endlich als Teil eines einigen
       Großeuropa unter der starken Hand Moskaus fühlen dürfen.
       
       Und die Pläne gehen auch schon weit darüber hinaus. Bald wird das
       Eurasische Reich sich ausdehnen und Groß-Brasilien wie Rest-Amerika
       erobern. Die exzellenten Raketen sind bereits auf ihre Ziele ausgerichtet.
       Nach dem bewährten Motto Moskaus: Heute Gayropa, morgen die ganze Welt.
       
       23 Apr 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Ringel
       
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