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       # taz.de -- Ausbeutung von Au-Pairs: Kein Urlaub, kein Feierabend
       
       > Niemand weiß, wie viele junge Menschen als Au-Pairs mehr arbeiten als
       > erlaubt. Denn die Branche ist wenig erforscht – und nur schwach
       > reguliert.
       
   IMG Bild: Kinder betreuen, Wohnung putzen, Abendessen kochen – für weniger als Mindestlohn
       
       Wer auf Instagram nach „#aupairlife“ sucht, bekommt über eine
       Viertelmillion Fotos angezeigt. Eine junge Frau vor einer Amsterdamer
       Gracht, die versinkende Sonne über dem Grand Canyon, der werbegrell
       erleuchtete New Yorker Times Square. „Au-pair“ heißt zu Deutsch „auf
       Gegenseitigkeit“. Das mit diesem französischen Wort bezeichnete Programm
       dient offiziell dem Kulturaustausch. Fremde Länder, ferne Reiseziele – der
       Traum vieler junger Menschen.
       
       Doch Au-pair-Leben heißt auch: wohnen, schlafen, arbeiten am selben Ort.
       „Man hat keinen Urlaub, keinen Feierabend“, berichtet Janil, die eigentlich
       anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, um
       Rückschlüsse auf ihre ehemalige Gastfamilie zu vermeiden. Die Kirgisin kam
       mit 19 Jahren nach Deutschland und verdingte sich für elf Monate als
       Au-pair. „Ich konnte nicht in Ruhe in meinem Zimmer sitzen, wenn alle zu
       Hause waren“, erzählt die inzwischen 25-Jährige, „weil ich dann immer das
       Gefühl hatte, ich muss helfen oder aufräumen.“
       
       Am Wochenende seien die beiden Kinder in ihr Zimmer geplatzt, weil sie
       spielen wollten, und wochentags wachte die stets daheim bleibende
       Gastmutter mit Argusaugen über die Arbeit der Kirgisin. „Das war das
       Anstrengendste“, resümiert Janil, „weil man den Chef immer zu Hause hat.“
       Sie ergänzt: „Mein Leben kreiste fast nur um die Sprachschule und die
       Familie.“ Überprüfen lassen sich Janils Aussagen nicht. „Da ich diese Zeit
       fast als traumatisierend empfinde, habe ich alles gelöscht, damit ich
       nichts mehr damit zu tun habe“, sagt sie. Doch Gründe, an ihrer
       Glaubwürdigkeit zu zweifeln, gibt es nicht.
       
       Schilderungen von Au-pairs wie Janil finden sich im Internet massenhaft.
       Immer wieder berichten auch Medien über Ausbeutung und andere Missstände.
       Wie viele Stunden Au-pairs wirklich arbeiten, welche Tätigkeiten sie
       verrichten müssen, wie viel Rücksicht auf ihre Privatsphäre genommen wird,
       all das ist schwer zu kontrollieren. Zudem stellt sich generell die Frage,
       ob der Verdienst den Aufgaben angemessen ist. Wo hört Kulturaustausch auf?
       Und wo fängt Ausbeutung an?
       
       Das Konzept Au-pair ist simpel: „Jungen ausländischen Staatsbürgern soll
       ermöglicht werden, ihre Sprachkenntnisse und ihre eventuelle
       Berufserfahrung zu vervollständigen und ihre Allgemeinbildung durch ein
       Kennenlernen des Gastlandes zu erweitern“, erklärt Christian Ludwig, ein
       Sprecher der Bundesagentur für Arbeit. Im Gegenzug müssen sie Aufgaben im
       Haushalt der Gastfamilie übernehmen: Sie bringen etwa die Kinder zur
       Schule, bügeln Wäsche, schmieren Brote oder passen auf die Haustiere auf,
       sie saugen Staub, spielen mit dem Nachwuchs, hüten das Haus.
       
       ## Praktisch nicht reguliert
       
       Knapp 15.000 Menschen kamen 2019 als Au-pairs nach Deutschland, ein Jahr
       später sank die Zahl wegen der Coronapandemie auf 5.600. Wie viele von
       ihnen vor allem ökonomische Ausbeutung statt kulturellem Austausch
       erfahren, lässt sich nur mutmaßen. „Zur Häufigkeit der Ausbeutung von
       Au-pairs liegen der Bundesagentur für Arbeit leider keine Zahlen vor“,
       räumt Pressesprecher Ludwig ein.
       
       Generell ist das Feld in Deutschland kaum untersucht und erstaunlich wenig
       reguliert: Seit 2002 bedarf es keiner besonderen Erlaubnis mehr, um als
       Au-pair-Vermittler:in zu arbeiten; ein Gewerbeschein genügt. Und auch wenn
       die Bundesrepublik wesentliche Rahmenvorgaben des vom Europarat bereits
       1969 verabschiedeten „Europäischen Abkommens über die
       Au-pair-Beschäftigung“ anerkannt und übernommen hat – bestätigt hat sie den
       Vertrag nie.
       
       Eine der wenigen Wissenschaftler:innen, die zu Au-pairs in Deutschland
       geforscht hat, ist Caterina Rohde-Abuba. „Das Programm, so wie es genutzt
       wird, als Kulturaustausch zu deklarieren, ist Quatsch“, kritisiert die
       Soziologin. Denn für die Gastfamilien habe der Kulturaspekt in der Regel
       keine Priorität. Ihnen gehe es meistens um eine günstige Haushaltshilfe.
       „Au-pair ist immer das, was ausgelagert wird, was die Leute nicht mehr
       stemmen können“, erklärt die Wissenschaftlerin. Kinder betreuen etwa, die
       Wohnung putzen, Abendessen zubereiten. All das für einen Lohn, der weit
       unter dem Mindestlohn liege, moniert Rohde-Abuba. Pro Monat erhält ein
       Au-pair 280 Euro von der Gastfamilie, dazu kommen Kost und Logis sowie
       insgesamt 600 Euro Sprachkursförderung. Für maximal 30 Stunden Arbeit in
       der Woche. Eigentlich.
       
       „Ich musste mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten“, erzählt die
       21-jährige Nura, die eigentlich anders heißt und unter Pseudonym mit der
       taz spricht. Auch sie möchte nicht, dass Rückschlüsse auf ihre ehemalige
       Gastfamilie gezogen werden können. Wie Janil stammt sie ebenfalls [1][aus
       Kirgistan], 2018 ging sie als Au-pair in eine süddeutsche Großstadt.
       „Manchmal ist die Gastmutter einfach mit ihrem Freund nachts weggegangen“,
       sagt Nura, „und ich musste dann natürlich auf die beiden Kinder aufpassen.“
       Zusätzlich zur Arbeit im Haushalt tagsüber.
       
       Nach vier Monaten möchte die junge Kirgisin ihre Gastfamilie wechseln, doch
       die Gastmutter stellt sich quer, verweist auf den Vertrag und droht ihr mit
       der Polizei. Letztlich habe sie aber doch noch wechseln können, sagt Nura.
       Allerdings sei die Familie ihr bis heute Geld schuldig geblieben. Es komme
       nicht sehr häufig vor, dass Gastfamilien ihre Au-pairs ausbeuteten, betont
       Cordula Walter-Bolhöfer. Sie ist Geschäftsführerin der „Gütegemeinschaft Au
       pair“, einem Zusammenschluss deutscher Agenturen, der Vermittlungen prüft
       und zertifiziert. „Die meisten Au-pair-Verhältnisse verlaufen reibungslos.“
       Probleme gebe es, wenn [2][Au-pair-Austausche] ohne Agentur zustande kämen.
       
       ## Der politische Wille fehlt
       
       Viele Gastfamilien und junge Menschen aus dem Ausland finden sich über
       Internetportale wie aupairworld.com, wo sie ihre Profile – ähnlich wie bei
       Datingseiten – mit Fotos und Informationen spicken können. Ein anderer Weg
       ist Facebook: Dort zählen viele Vermittlungsgruppen mehrere zehntausend
       Mitglieder, die größte deutsche über 56.000. Geht etwas schief, sind die
       jungen Menschen in der Regel auf sich allein gestellt. „Das sind dann oft
       Au-pairs, die sich an unsere Agenturen wenden“, erklärt Walter-Bolhöfer.
       
       Doch auch eine seriöse Vermittlung ist keine Garantie für einen gelungenen
       Aufenthalt. „Die haben mich im Stich gelassen“, sagt Janil über die
       Agentur, die sie und ihre Gastfamilie zusammenbrachte. Weil Janil zu viel
       arbeiten muss, wendet sie sich an ihre Vermittlung. Doch die Familie
       wechseln darf sie letzten Endes nicht. „Am Ende war es wirklich sehr
       schlimm“, erzählt die junge Frau heute. In den letzten Monaten ihrer
       Au-pair-Zeit sei es häufig zum Streit mit der Gastfamilie gekommen. „Wir
       hatten Hass in den Augen.“
       
       Wolle man Au-Pairs schützen, findet Soziologin Rohde-Abuba, müsse man deren
       Tätigkeiten als Arbeit definieren. Dafür jedoch fehle der politische Wille.
       Denn das Au-pair-Programm gilt nicht als sozialversicherungspflichtiges
       Arbeitsverhältnis. Also können Au-pairs auch nicht von den Gewerkschaften
       vertreten werden. „Es kann nicht sein, dass wir für so wenig Geld
       ausländische junge Menschen bei uns arbeiten lassen, weil unsere
       Kinderbetreuungsangebote so schlecht sind“, erklärt die Forscherin.
       Obendrein könne niemand kontrollieren, was in den Privathaushalten vorgehe,
       in denen Au-pairs lebten.
       
       ## Endlich angekommen
       
       Rohde-Abuba fordert deshalb eine stärkere Regulierung der Branche. Denn für
       viele der jungen Ausländer:innen sei nämlich das Visum für Deutschland
       der größte Vorteil des Programms. Einige blieben nach ihrem Au-pair-Dienst
       in der Bundesrepublik und versuchten, sich hier eine langfristige Karriere
       aufzubauen.
       
       Auch Nura und Janil haben nach ihrer Zeit als Au-pair jeweils ein
       [3][Freiwilliges Soziales Jahr] in Deutschland absolviert. Trotz ihrer
       durchwachsenen Erlebnisse halten beide das Au-pair-Programm generell für
       eine gute Sache. „Wenn jemand eine andere Kultur und Sprache kennenlernen
       und reisen will, ist es eine sehr gute Erfahrung“, findet Nura.
       
       Während sie nach ihrem FSJ nach Kirgistan zurückkehrte, ist Janil hier
       geblieben. Sie studiert und hat außerdem eine Familie gegründet. „Ich habe
       Deutschland erst nach meiner Au-pair-Zeit kennengelernt“, erzählt die
       Kirgisin. Inzwischen, so scheint es, ist sie angekommen.
       
       25 Apr 2022
       
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