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       # taz.de -- Intervention in der Kunsthalle Bremen: Das Auge bleibt drin
       
       > Wie mit rassistischen Kunstwerken umgehen? Natasha A. Kelly macht in
       > Bremen Ernst Ludwig Kirchners „Schlafende Milli“ zum aufgeweckten
       > Subjekt.
       
   IMG Bild: Natasha A. Kelly weckt Ernst Ludwig Kirchners „Schlafende Milli“. Still aus „Millis Erwachen“, 2018
       
       Kunst ist [1][immer Propaganda]. Hat sie Erfolg, setzt sie eine Sichtweise
       durch auf den Bildgegenstand, den sie kommuniziert – und sei es nur eine
       Farbe. In diesem Fall geht’s um die Farbe Schwarz, der Bildgegenstand ist
       eine Frau und das in der Hochphase des Kolonialismus entstandene Gemälde
       „Schlafende Milli“ von Ernst Ludwig Kirchner ist unbestreitbar ein
       Schlüsselwerk: für den Maler selbst, für den Expressionismus, fürs 20.
       Jahrhundert.
       
       Seit den 1960ern gehört es der Bremer Kunsthalle und hat – erotisierend,
       exotisierend – den Blick geprägt, den die westliche Gesellschaft auf
       Schwarze Frauen wirft. Mit unterwürfig geschlossenen Augen liegt sie da:
       Kirchner hat sie, immerhin, ins Zentrum gestellt, sie dabei aber zugleich
       verfügbar gemacht und entindividualisiert.
       
       Das ist, wo Natasha A. Kellys Intervention „Wer war Milli?“ ansetzt, die
       jetzt als essayistischer Kommentar zum Meisterwerk in der Sammlung
       präsentiert wird. Dabei: „Ob Kirchner rassistisch war oder nicht“, so die
       Kommunikationswissenschaftlerin, Medienkünstlerin [2][und Aktivistin
       Kelly], „das war für mich irrelevant.“
       
       Stattdessen greift sie den vom Kunstwerk mitgeformten und gelenkten Blick
       an, dem der Schwarze Frauenkörper als „Diskursterrain“ diene, „um weiße
       Geschichten zu erzählen“, wie Kelly [3][in Anlehnung an die kürzlich
       verstorbene Philosophin bell hooks] sagt.
       
       ## Milli ist ein Sammelbegriff
       
       Im Oeuvre des Brücke-Malers, in Archiven und in Briefen hat sie nach Spuren
       dessen gesucht, was mit diesen weißen Geschichten überschrieben wurde; eine
       notwendig unvollendete Recherche. Ein Forschungsstipendium für Kelly wäre
       angebracht, damit sie die Arbeit fortführen kann.
       
       Denn akribisch hat sie nach Hinweisen aufs Leben dieser Frau gefahndet.
       Könnte die vielleicht auch als „Vorbotin Schwarzer deutscher Identität“
       gelesen werden? Das fragt eine der zwei Videoarbeiten Kellys, die den
       Korpus der Intervention ausmachen.
       
       War Milli Artistin? Tänzerin? Sexarbeiterin? An Gewissheiten hat auch Kelly
       bislang fast nur zutage fördern können, dass Milli eine Art Sammelbegriff
       war: „Es gab viele Millis.“ Mit dem Namen hat der Maler insbesondere
       Schwarze Frauen bezeichnet, die in Dresden ausgestellt waren – im Zoo.
       Völkerschau hieß das damals.
       
       Spätestens hier wird’s unbequem. Denn selbstverständlich ist das
       unerträglich. Und ebenso selbstverständlich bleibt das Bild ja schön. Und
       indem sie dieses verschüttete Wissen ausstellen, zwingen Kelly und die
       Kunsthalle dazu, sich der Dissonanz der eigenen Wahrnehmung zu stellen.
       Konsequent wäre, sich das Auge auszureißen. Aber tut man’s?
       
       30 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://nationalhumanitiescenter.org/pds/maai3/protest/text10/text10read.htm
   DIR [2] /Vorstoss-gegen-Rasse-im-Grundgesetz/!5693371
   DIR [3] https://archive.org/details/blacklooksracere00hook/mode/2up?q=body&view=theater
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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