URI: 
       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Wo die Schwächsten gerettet werden
       
       > Sonja muss ein Granatsplitter aus dem Kopf operiert werden. Milana wird
       > von einer Rakete verletzt. Eindrücke aus einem Kinderkrankenhaus in Kiew.
       
   IMG Bild: Ein zerbombtes Haus in der südukrainischen Stadt Mykolajiw am 18. April
       
       Kiew taz | Ein Krankenbett steht hinter dem anderen, in einem langen
       Korridor im Erdgeschoss des Kinderkrankenhauses „Ochmatdit“ in Kiew. Darauf
       liegen alle möglichen Gegenstände – Decken, Handtücher, Bücher,
       Taschenlampen und Aufladegeräte für Handys. Doch alle Betten sind leer, die
       Patient*innen kommen nur nachts hierher. Die restliche Zeit verstecken
       sie sich vor möglichen Luftangriffen.
       
       In dem Korridor ist auch ein Schrank mit Medikamenten und einer Mikrowelle
       zu sehen. Daneben stapeln sich Vorräte an Lebensmitteln. Die Krankenstation
       ist mittlerweile so ausgestattet, dass Ärzt*innen und Patient*innen
       hier mehrere Tage lang ausharren können. So wie im März, als Kiew noch
       permanent beschossen wurde. Der Flur ist nur einer von einem Dutzend
       solcher Korridore im größten ukrainischen Kinderkrankenhaus „Ochmatdit“,
       das sich in der Nähe des Zentrums der [1][ukrainischen Hauptstadt Kiew]
       befindet.
       
       In den allerersten Stunden der russischen Invasion begann das Krankenhaus
       Kinder aufzunehmen, die durch Granaten verwundet worden waren. Das jüngste
       war gerade einmal einen Monat alt. Während der Explosion hatte die Mutter
       das Kleine mit ihrem Körper schützen können, sodass es nur leicht verletzt
       wurde.
       
       Um den Opfern schneller zu helfen, wurde die Notaufnahme direkt hierher
       verlegt. Daneben wurden drei Operationssäle eingerichtet. In dieser neuen
       Abteilung herrscht permanenter Ausnahmezustand, das Personal arbeitet rund
       um die Uhr. Mindestens sieben Spezialist*innen sind hier immer im
       Einsatz – Chirurg*innen, Kinderärzt*innen, Radiolog*innen,
       Anästhesist*innen und andere Fachärzt*innen.
       
       „13 Minuten von der Diagnose bis zum Operationstisch, das war unser
       Rekord“, sagt der Leiter der Abteilung und Intensivmediziner Andrei
       Vysotzki. In dieser Zeit sei es ihnen gelungen, den Patienten zu
       untersuchen, zu röntgen, notwendige Tests zu machen und den Operationssaal
       vorzubereiten.
       
       Am häufigsten werden Kinder mit Verletzungen an den Gliedmaßen
       hierhergebracht – sei es durch Schüsse oder Minen, aber auch Fälle mit
       schweren Blutungen sind dabei. Alle Ärzt*innen des Krankenhauses sagen,
       sie hätten sich niemals vorstellen können, dass sie irgendwann das Leben
       von Kindern mit Kriegsverletzungen retten müssen.
       
       In der hintersten Ecke des Korridors im Kellergeschoss flackert das
       beleuchtete Display eines Smartphones. Die 13-jährige Sonja liest gerade
       Nachrichten. Außer dem Mädchen, ihrer Mutter und einer Krankenschwester ist
       niemand zu sehen. „Wir bleiben, auch wenn kein Luftalarm ist, hier es ist
       einfach ruhiger“, sagt Sonjas Mutter Ljudmila.
       
       Das Mädchen hat kurze Haare, der Kopf ist mit einem Verband umwickelt, aus
       dem eine Art Schlauch heraushängt. Die 13-Jährige musste sich vor wenigen
       Tagen einer äußerst schwierigen Operation unterziehen – ein Granatsplitter
       musste entfernt werden, der in ihren Kopf eingedrungen war. Sie hat
       Schwierigkeiten, auf dem Bett zu sitzen, die rechte Hand will immer noch
       nicht gehorchen.
       
       Am 5. März war ihr Heimatdorf in der Region Mykolajiw unter Beschuss der
       russischen Armee geraten. Mutter und Tochter standen vor ihrem Haus, als es
       zu einer schweren Explosion kam. „Wir hörten das Pfeifen eines Geschosses,
       und meine Mutter rief: „Sonja, lauf!“ Ich habe nur drei Schritte gemacht
       und dann das Bewusstsein verloren“, erzählt Sonja, ihre Stimme ist ganz
       leise und klingt heiser.
       
       Als sie wieder aufwachte, habe sie gesehen, wie ihre Eltern versuchten, sie
       in den Keller des Hauses zu tragen. „Meine Mutter packte mich an den
       Beinen, mein Vater an den Händen. Dann wurde ich wieder bewusstlos“,
       erzählt sie.
       
       So ging das mehrere Male, während die Eltern in Panik alles daransetzten,
       ihre Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Die ganze Zeit wurde geschossen.
       Als sie wieder aufwachte, war sie bereits im Krankenhaus von Mykolajiw und
       schon operiert worden. „Anfangs wusste ich überhaupt nicht, was passiert
       war, aber nach einer Weile kamen die Erinnerungen wieder zurück. Die erste
       war eine Explosion“, sagt Sonja.
       
       Auch als die 13-Jährige in Mykolajiw behandelt wurde, war die Stadt unter
       dauerndem Beschuss. Die Ärzt*innen waren jedoch nicht in der Lage, den
       Granatsplitter zu entfernen, denn dieser steckte zu tief im Gehirn des
       Mädchens. Drei Wochen dauerte es, bis Sonja endlich nach Kiew evakuiert
       werden konnte. In dieser Zeit litt sie unter starken Kopfschmerzen, ihre
       rechte Körperhälfte war wie gelähmt. „Als Sonja nach der ersten Operation
       wieder aufwachte, war ich glücklich. Doch die Ärzt*innen haben mir gleich
       gesagt, dass eine solche Operation immer sehr schwierig und riskant sei“,
       erzählt Mutter Ljudmila, während ihr Tränen über das Gesicht laufen. „Aber
       sie lebte. Wie es mit ihr weitergehen würde, danach habe ich mich gar nicht
       mehr getraut zu fragen“, sagt sie.
       
       Erst am 29. März und damit 24 Tage nach der Explosion konnte der
       Granatsplitter bei Sonja operativ entfernt werden. Der Eingriff dauerte
       zwei Stunden. „Wir hatten Glück. Nur zwei Zentimeter weiter rechts, links,
       oben oder unten, und lebenswichtige Teile des Gehirns wären irreparabel
       geschädigt gewesen“, sagt der Chirurg Pawlo Plawski, der Sonja das Leben
       gerettet hat. In seiner Handfläche liegt ein sechs bis sieben Millimeter
       langes Stück Metall – der Splitter, den er aus Sonjas Hirn entfernt hat.
       „Dass Sonja trotz allem drei Wochen überlebt hat und sich jetzt langsam von
       der Operation erholt, ist für mich wie ein Wunder“, sagt Plawski und nimmt
       Sonja bei der Hand.
       
       Die 13-Jährige hat noch einen langen Weg bis zur Genesung vor sich. Und
       auch im Dach ihres Hauses klafft nach dem Angriff ein riesiges Loch.
       Trotzdem träumt sie davon, so schnell wie möglich nach Hause
       zurückzukehren: Sie würde gerne wieder in der Nähe ihres Dorfes um die
       Wette schwimmen, Fische fangen und ihre Freund*innen sehen. Vor allem
       aber will sie wieder zeichnen und Gitarre spielen, was sie vor dem Krieg
       oft und gerne gemacht hat.
       
       „Papa hat versprochen, dass er mir neue Noten kauft und die alte Gitarre
       repariert, wenn ich endlich nach Hause komme“, sagt Sonja, und dabei huscht
       ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann wirft sie ihrer Mutter einen
       verstohlenen Blick zu und sagt: „Aber am liebsten hätte ich eine neue
       Gitarre mit sieben Saiten.“
       
       Sonjas Geschichte ist einzigartig, doch für die Ärzt*innen in Kiew und in
       anderen Kliniken der Ukraine ist sie seit zwei Monaten eine von Hunderten.
       Im „Ochmatdit“ wurde auch der 13-jährige Bobi gerettet. Er und seine
       Familie waren in Kiew unter Beschuss geraten, als sie versuchten, sich
       evakuieren zu lassen. Sein Vater und sein sechsjähriger Bruder waren auf
       der Stelle tot. In das Haus der sechsjährigen Milana in Hostomel schlug
       eine Rakete ein, die Mutter starb vor den Augen des kleinen Mädchens.
       Milana wurde durch Granatsplitter an ihren Beinen und Armen schwer
       verletzt.
       
       Auch der fünfjährige Dima hat schwerste Verletzungen an seinen Beinen
       erlitten. Als seine Familie versuchte aus Tschernihiw zu fliehen, schlug
       eine Granate nur fünf Meter entfernt von ihrem Auto ein. Dima erwischte es
       am schlimmsten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Doch nicht alle
       Geschichten gehen gut aus. Oft genug sterben dem medizinischen Personal
       ihre kleinen Patient*innen einfach unter den Händen weg. Offiziellen
       Angaben zufolge sind bislang über 200 Kinder infolge der Kampfhandlungen
       ums Leben gekommen, die meisten davon in den Gebieten Donezk, Kiew und
       [2][Charkiw].
       
       „Das allererste Opfer, das nach Ochmatdit gebracht wurde, war ein Junge,
       dessen Namen wir nicht kannten. Wir haben ihn dann den ‚Unbekannten Nummer
       eins‘ genannt“, erzählt die Pressesprecherin des Krankenhauses Anastasia
       Maggeramowa. „Das Kind hatte eine schwere Wunde am Hals. Russische Soldaten
       hatten die Eltern und die Schwester des Jungen erschossen. Später stellte
       sich heraus, dass er Semjon hieß. Er starb fünf Tage später auf der
       Intensivstation“, sagt Maggeramowa. Sie wohnt, wie alle anderen
       Ärzt*innen und Pfleger*innen auch, im Krankenhaus.
       
       Maggeramowa dokumentiert alle Geschichten ihrer jungen Patient*innen, die
       Kriegsverletzungen davongetragen haben, und stellt diese Informationen der
       Krankenhausleitung zur Verfügung. „Damit die ganze Welt von [3][Russlands
       Verbrechen] an den ukrainischen Kindern erfährt“, sagt sie.
       
       Die Ärzt*innen und Pfleger*innen sagen, dass sie keine Zeit haben,
       sich ihrer Verzweiflung hinzugeben. Denn dann wären sie nicht in der Lage,
       den Patient*innen, deren Leben in Gefahr ist, die notwendige Hilfe zu
       leisten. „Über alles nachzudenken, das leisten wir uns später, nach dem
       Sieg“, sagt etwa ein Arzt auf der Intensivstation.
       
       Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter
       Stitung 
       
       Aus dem Russischen [4][von Barbara Oertel]
       
       27 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rueckkehr-zum-Leben-in-Kiew/!5846339
   DIR [2] /Russische-Militaerstrategie-in-der-Ukraine/!5849851
   DIR [3] /Mutmassliche-Kriegsverbrechen/!5845931
   DIR [4] /Barbara-Oertel/!a1/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anastasia Magasowa
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Kyjiw
   DIR Kriegsverbrechen
   DIR Kinder
   DIR GNS
   DIR Covid-19
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR psychische Gesundheit
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Artensterben
   DIR Russland
   DIR Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ukrainische Krankenhäuser im Krieg: Schlaganfall bei Luftalarm
       
       Auch im Krieg werden Menschen krank. Doch bei drohenden Raketenangriffen
       fahren keine Rettungswagen. Auch nicht bei schweren medizinischen
       Notfällen.
       
   DIR Doku über ukrainische Kriegsversehrte: Heilen, was der Krieg verstümmelt
       
       Zur Behandlung in den Westen: Montag Abend zeigt der NDR die Reportage
       „Schwer verwundet: Ukrainische Kriegsopfer in deutschen Kliniken“.
       
   DIR Unterwegs in der Ukraine: Eine Zeitreise zur Front
       
       Es ist nicht lange her, da tobten nahe Kiew die erbittertsten Kämpfe. Unser
       Korrespondent wurde zu den Schauplätzen eingeladen – mit klarem Ziel.
       
   DIR Gesundheitssystem in der Ukraine: Notfall von Dauer
       
       Der russische Vernichtungskrieg trifft das Land hart. Viele Krankenhäuser
       sind zerstört, Medikamente werden knapp, Infektionskrankheiten nehmen zu.
       
   DIR Aus der Ukraine zurück nach Berlin: Urlaub vom Krieg
       
       Bis zum Kriegsbeginn lebte unsere Autorin in Berlin. Seitdem berichtet sie
       für die taz aus der Ukraine. Nun ist sie zurück. Mit welchem Gefühl?
       
   DIR IT-Branche in der Ukraine: Das karpatische Silicon Valley
       
       Viele ukrainische IT-Fachkräfte sind wegen des Krieges gezwungen, in den
       Westen des Landes zu fliehen. Insbesondere Charkiw hat viele IT-ler:innen
       verloren.
       
   DIR Rote Liste wird ergänzt: Auch die Reptilien sterben
       
       Eine neue Studie zeigt, dass jede fünfte Reptilienart gefährdet ist. Oft
       helfen ihnen aber die gleichen Maßnahmen wie Vögeln und Säugetieren.
       
   DIR Kriegspropaganda für Kinder in Russland: Psychose für die Kleinsten
       
       Schon Dreijährige werden indoktriniert: Wie russische Kriegspropaganda auf
       Kindergärten ausgeweitet wird.
       
   DIR Reporter*innen in der Ukraine: Mensch bleiben
       
       Ukrainische Journalist*innen berichten – sind aber auch Bürger*innen
       ihres Landes. Vier von ihnen reflektieren über zwei Monate Krieg.
       
   DIR Russische Militärstrategie in der Ukraine: Die Hölle von Charkiw
       
       Russische Truppen greifen Charkiw gezielt an, um so ukrainische Truppen vom
       Donbass fernzuhalten. Dabei sterben täglich Zivilist:innen.