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       # taz.de -- Debatte um Neun-Euro-Ticket: Trojanisches Pferd für Superarme
       
       > Wegen des geplanten Neun-Euro-Tickets befürchten deutsche Urlaubsregionen
       > wie Sylt den Kollaps. Immerhin steht die eigene Exklusivität auf dem
       > Spiel.
       
   IMG Bild: Der Blick von oben lässt auf Sylt jede Menge Platz vermuten – die Inselbewohner sehen das anders
       
       Auf Sylt hat man Angst. Denn noch ist der Beschluss nicht endgültig in
       trockenen Tüchern, doch man nimmt allgemein an, dass das
       [1][Neun-Euro-Ticket kommen wird]. Im Rahmen des Entlastungspakets für die
       Bundesbürger wegen der stark gestiegenen Energiepreise wird jede und jeder
       vom 1. Juni an bis zum 31. August für nur neun Euro im Monat den
       öffentlichen Nahverkehr benutzen können. Und dazu zählen dann auch
       Regionalzüge, mit denen sich Abenteuerlustige im Extremfall von Rügen bis
       zum Schwarzwald durchhangeln können.
       
       Ebensolche Urlaubsregionen sind es, die nun unter dem erwarteten Run von
       Tagesausflüglern und Billigtouristen, die „bloß gucken wollen“, schon mal
       prophylaktisch aufstöhnen. Das gilt nicht nur für die Küstenorte in
       Mecklenburg-Vorpommern, wo man seit jeher auch jede noch so zahlungswillige
       Kundschaft als Störung, Zumutung und Überforderung begreift. Sondern
       insbesondere auch für sich eher exklusiv definierende Zielorte [2][wie die
       Nordseeinsel Sylt.]
       
       „Wir sehen die Insel nicht optimal (aus-)gerüstet für das 9-Euro-Ticket und
       den damit verbundenen Ansturm“, sagt der Geschäftsführer der Sylt
       Marketing, Moritz Luft, der Deutschen Presse-Agentur. Und führt dabei vor
       allem das Nadelöhr Hindenburgdamm an, durch das fast sämtliche Besucher auf
       ihrem Weg zur Insel müssen. Die norddeutsche Noblesse verbietet ihm,
       deutlicher zu sagen, wo er am Ende das Problem für seine Freunde vom Sylter
       Gastgewerbe sehen dürfte: Die Bahn wird für sie alle zu einem trojanischen
       Pferd für Superarme.
       
       Was haben die Sylter Champagner- und Krabbenschwemmen davon, wenn
       Heerscharen von graugesichtigen Bewohnern Barmbeker Kellerwohnungen auf der
       Suche nach einer billigen Bockwurst mit Schwimmkrokodil und Sandeimerchen
       durchs Dorf klötern? Nein, auf Gesindel mit Kupfermünzen ist man in der Tat
       nicht vorbereitet; das sind nicht die Leute, die man hier unbedingt sehen
       will. Doch Schleswig-Holstein hat in Erwartung des Neun-Euro-Tickets für
       die Marschbahnstrecke von Hamburg nach Sylt immerhin schon zusätzliche
       Kapazitäten bestellt. Frei nach Olaf Scholz wird Sylt eine Zeitenwende
       erleben.
       
       ## Exklusivität braucht Exklusion
       
       Wie unter dem Brennglas zeigt sich hier, wie unsere Gesellschaft tickt.
       Bestimmte Angebote, die immer Luxus waren (Sylt, Champagner), Luxus sind
       (Kurzurlaube an Nord- und Ostsee) oder Luxus sein werden (Fleisch, Gemüse,
       Flugreisen, Senf) funktionieren nur über ihre Verknappung, die sich
       wiederum über den Preis steuert. Der Reichtum braucht für seine bequeme
       Entfaltung die Armut, die Exklusivität braucht die Exklusion, der Überfluss
       braucht den Mangel.
       
       Das betrifft sämtliche Strukturen und Infrastrukturen. Unsere Straßen sind
       nicht darauf ausgerichtet, dass jede ein Auto hat; unsere Radwege nicht
       darauf, dass mehr von uns mit dem Rad fahren; unsere Züge nicht, dass
       Krethi und Plethi damit hin- und hergondeln, wie sie lustig sind.
       Restaurants würden aus allen Nähten platzen, wenn sich jede einen Besuch
       dort leisten könnte; Sylt würde unter dem Ansturm schwergewichtiger
       Unbefugter noch schneller abbrechen und im Meer versinken als sowieso
       schon.
       
       Doch selbstverständlich gibt es auch bahninterne Sorgen logistischer Natur.
       Denn woher sollen die ganzen zusätzlichen Züge kommen? So rechnen die
       Bahngewerkschaft EVG und der Fahrgastverband Pro Bahn mit chaotischen
       Zuständen, da kein Bahn-Unternehmen auf den Andrang vorbereitet sei. Das
       leuchtet ein, gleichen doch bisher schon Zugfahrten auf den Strecken von
       Berlin Richtung Ostsee oder auch nur in die brandenburgischen
       Naherholungsgebiete (und zurück!) speziell an Sommerwochenenden einer
       „Reise nach Jerusalem“ mit einem Stuhl und tausend Teilnehmern, mit Prügel,
       Geschrei, Tränen und dem verbogenen Blech aus überfüllten Zügen geworfener
       Fahrräder. Für Pendler, die die Fahrkosten ja oftmals ohnehin ersetzt
       bekommen, wird der kommende Sommer zur Hölle werden.
       
       ## Verkürzte Züge wegen des Kriegs
       
       Für eine weitere Verschärfung auf den Regionalbahnlinien sorgt der Krieg in
       der Ukraine. „Interpipe“, der dortige Hauptlieferant für Radscheiben, wie
       sie auch für die klassischen Regionalzugmodelle von Bombardier benötigt
       werden, musste kriegsbedingt die Fertigung einstellen. Da es sich bei den
       Rädern um ständig zu ersetzende Verschleißteile handelt, gerät die Bahn
       nunmehr verstärkt ins Schwitzen. Der mutmaßliche neue Hersteller in Spanien
       muss wohl erst einmal die Produktion aufnehmen.
       
       „Es gibt aber dadurch keine Einschränkungen im Bahnbetrieb – auch
       kurzfristig nicht“, verkündete noch Anfang April [3][eine Bahnsprecherin im
       „Spiegel“]. Drei Wochen später ist dann auf einmal doch von [4][„verkürzten
       Zügen“] die Rede – man hat bei der Bahn wohl einfach noch mal nachgedacht
       und ist dann tatsächlich auf folgende Formel gestoßen: Weniger Wagenräder
       bedeuten weniger Wagen; weniger Wagen bedeuten kürzere Züge. „Klingt
       komisch, is aber so!“ („Die Sendung mit der Maus“).
       
       Genau hierin könnte aber auch die Rettung für die Sylter liegen. Wenn der
       Zug voll ist, ist er voll, und bei kürzeren Zügen ist diese Grenze früher
       erreicht. Damit verengt sich der Hindenburgdamm noch weiter zum Pöbelsieb,
       durch das es nun weniger auf die Insel schaffen können als zunächst
       befürchtet. So werden die Sylter von Kriegsverlierern zu Kriegsgewinnlern.
       Nicht auszuschließen ist, dass die geschäftstüchtigen Nordleute bei Nacht
       und Nebel im Bahnhof von Westerland noch weitere Waggonräder ansägen. Die
       zahlungskräftige Wunschklientel kann schließlich fliegen.
       
       4 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /9-Euro-Monatsticket-fuer-OePNV/!5843367
   DIR [2] /Klima-wandelt-sich-Gesellschaft-auch/!5828920
   DIR [3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/ukraine-krieg-deutsche-bahn-von-lieferproblemen-betroffen-a-fd27f64c-2aaf-41cb-b060-936497e88c8b
   DIR [4] https://www.berliner-zeitung.de/news/ukraine-krieg-deutsche-bahn-muss-regionalzuege-verkuerzen-li.225077
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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