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       # taz.de -- Nachruf auf Staatschef von Belarus: Streiter für ein freies Belarus
       
       > Der erste Staatschef von Belarus, Stanislaw Schuschkewitsch, ist im Alter
       > von 87 Jahren in Minsk gestorben. Zuvor hatte er Corona.
       
   IMG Bild: Stanislaw Schsuchkewitsch vor einem Prozess in Minsk 2016
       
       Berlin taz | „Um an der Macht zu bleiben, würde unser illegitimer
       [1][Präsident Alexander Lukaschenko] alles verschachern, auch Belarus“,
       sagte Stanislaw Schuschkewitsch 2016 dem Sender Radio Freies Europa. Doch
       die endgültige [2][Vereinigung seines Landes mit dem Nachbarn] sollte er
       nicht mehr erleben. In der Nacht zu Mittwoch starb der erste Staatschef des
       unabhängigen Belarus mit 87 Jahren in Minsk an den Folgen einer
       Corona-Infektion.
       
       Schuschkewitsch wurde am 15. Dezember 1934 in Minsk in einer Familie von
       Schriftstellern geboren. Sein Vater wurde 1936 als „Volksfeind“ verhaftet
       und kehrte erst nach 20 Jahren Gulag und Zwangsarbeit in Sibirien wieder
       zurück. Schuschkewitsch studierte Physik mit dem Schwerpunkt
       Radioelektronik und wurde 1972 Professor. Bis Anfang der 90erJahre leitete
       er den Lehrstuhl für Atomphysik an der Staatlichen Belarussischen
       Universität in Minsk.
       
       Anfang der 60er Jahre hatte Schuschkewitsch eine Begegnung der dritten Art.
       Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er im Konstruktionsbüro einer Minsker
       Radiofabrik. Da er besser als alle anderen des Englischen mächtig war,
       erhielt er den Auftrag, einem speziellen Gast aus den USA Russisch
       beizubringen.
       
       Besagter Gast war Lee Harvey Oswald, der nach seiner Rückkehr in die USA am
       22. November 1963 unter dem Verdacht, ein tödliches Attentat auf den
       damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy verübt zu haben, festgenommen und
       zwei Tage später in Polizeigewahrsam getötet worden war.
       
       ## Wetter als Gesprächsthema
       
       Es sei ihm absolut untersagt gewesen, Oswald über dessen Privatleben,
       Ausbildung oder die Motive, wegen derer er nach Minsk gekommen sei, zu
       befragen. Stattdessen habe man über das Wetter, Einkäufe und Theater
       geredet, erinnerte sich Schuschkewitsch später. Er habe der offiziellen
       Version der US-Behörden, Oswald habe in Eigenregie gehandelt, nie geglaubt.
       
       Zu einer Zäsur für Schuschkewitasch wurde der 26. April 1986 – der Tag der
       Explosion des vierten Reaktors im Atomkraftwerk Tschernobyl. Bis dahin sei
       Michail Gorbatschow sein Idol gewesen, heißt es in Schuschkewitschs Buch
       „Mein Leben, Zusammenbruch und Wiederauferstehung der Sowjetunion“. Doch
       Gorbatschows Verschleierungspolitik, der die Interessen der KP über die
       Gesundheit der Menschen gestellt habe, hätte ihn bitter enttäuscht.
       
       Mit der Unterstützung der oppositionellen Belarussischen Volksfront (BNF)
       wurde Schuschkewitsch 1989 in den Kongress der Volksdeputierten der
       Sowjetunion und im Jahr darauf in den Obersten Sowjet von Belarus gewählt,
       der ihn zum Vorsitzenden bestimmte. In dieser Eigenschaft unterschrieb er
       mit den damaligen Präsidenten der Ukraine und Russlands am 8. Dezember 1991
       einen Vertrag über die Auflösung der Sowjetunion und die Gründung der
       Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS).
       
       In einem Interview mit der taz aus dem Jahr 1996 bezeichnete
       Schuschkewistch den Auflösungsvertrag als ein Dokument, das den Klinischen
       Tod der Sowjetunion festgestellt habe. „Wenn der Notarzt kommt und sieht,
       dass der Kranke verstorben ist, setellt er einen Totenschein aus. Und das
       haben wir getan“; sagte Schuschkewitsch.
       
       ## Auf dem vierten Platz gelandet
       
       Im Juni 1994 trat Schuschkewitsch bei der Präsidentenwahl an und landete
       mit 9,9 Prozent auf dem vierten Platz. Die zweite Runde konnte Alexander
       Lukaschenko für sich entscheiden, der alsbald begann, Belarus zu einem
       autoritären Staat umzubauen.
       
       Mit Lukaschenko stand Schuschkewitsch, der sich in der sozialdemokratischen
       Partei BSDG engagierte, recht bald auf Kriegsfuß. 1997 ließ eine
       Gesetzesänderung auch seine monatliche Rente auf umgerechnet 1,80 Euro
       schrumpfen, was er als einen Rachefeldzug Lukaschenkos deutete – gegen
       Leute, die sich nicht bedingungslos unterordnen wollten.
       
       Ähnlich lautete seine Einschätzung 2020, als sein Sohn Stanislaw während
       der Proteste gegen die Präsidentenwahl am 9. August wegen mehrerer Posts
       auf Facebook zehn Tage in Haft genommen wurde. Gegenüber dem russischen
       Nachrichtenportal insider.ru zitierte schuschkewitsch die berühmte
       russische Dichterin Anna Achmatowa mit dem Satz: „Nach mir wurden schon so
       viele Steine geworfen, dass mir keiner mehr Angst macht.“ Das dürfte er
       auch 2021 gedacht haben: Da wurde sein Name aus den Lehrbüchern für die 11.
       Klasse gestrichen.
       
       6 May 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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