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       # taz.de -- Bundespräsident Steinmeier in Finnland: „Wir stehen an Eurer Seite“
       
       > Frank-Walter Steinmeier ist auf Staatsbesuch in Helsinki. Der
       > Ukrainekrieg und die Kritik an seiner Russlandpolitik in der
       > Vergangenheit reisen mit.
       
   IMG Bild: Staatsbesuch in Helsinki – doch wann reist Steinmeier nach Kiew?
       
       Helsinki/Berlin taz | Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sitzt auf der
       Tribüne im finnischen Parlament, als auf Bildschirmen unten in dem
       Kuppelbau Wolodimir Selenski mit einer Ansprache zugeschaltet wird. Es ist
       seine erste direkte Begegnung mit dem ukrainischen Präsidenten auf diese
       Art. Als [1][Selenski im Bundestag gesprochen hat], war Steinmeier nicht
       dabei. Anschließend umarmte dort Steinmeiers Vorgänger Joachim Gauck den
       ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, die Kameras fingen die Geste ein.
       Ein starkes Bild entstand.
       
       Der Bundespräsident habe sich an diesem Tag am Berliner Hauptbahnhof mit
       ukrainischen Geflüchteten getroffen, so begründet sein Amt Steinmeiers
       Abwesenheit. An diesem Freitag ist Steinmeier auf Staatsbesuch in Helsinki,
       den Vormittag hat er im Gespräch mit Staatspräsident Sauli Niiniströ
       verbracht. Jetzt befinden sich beide auf der Tribüne der Volksvertretung in
       Helsinki.
       
       Seit einer Weile ist es mit Steinmeier und Selenski oder Melnyk wie mit dem
       Hasen und dem Igel: Wo der Bundespräsident auftaucht, ist der andere schon
       da. Das gilt besonders für den umtriebigen, mitunter auch aggressiven
       Botschafter, der, ganz undiplomatisch, Provokationen nicht scheut. Seit dem
       Beginn des russischen Angriffskriegs auf sein Land versucht Melnyk, die
       deutsche Regierung vor sich her zu treiben, um mehr Unterstützung für die
       Ukraine und härtere Sanktionen gegen Russland zu erreichen.
       
       Insbesondere aber geht Melnyk Steinmeier hart an. Einer der Höhepunkte:
       „Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas
       Fundamentales, ja Heiliges, egal was geschieht. Auch der Angriffskrieg
       spielt da keine große Rolle“, sagte Melnyk dem Tagesspiegel. Auch habe
       Steinmeier seit Jahrzehnten „ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland“
       geknüpft, in das viele Leute verwickelt seien, „die jetzt in der Ampel das
       Sagen haben“.
       
       ## Steinmeier als Schlüsselfigur der Ostpolitik
       
       Ohne Zweifel ist Steinmeier eng mit der deutschen Russlandpolitik der
       vergangenen zwei Jahrzehnte verknüpft. Unter Gerhard Schröder, dem
       Ex-Bundeskanzler der SPD, der sich auch heute noch aus Russland bezahlen
       lässt, leitete er das Kanzleramt, zweimal war er Außenminister im Kabinett
       von Angela Merkel (CDU), zuletzt von 2013 bis 2017. Also auch in der Zeit,
       als Russland die Krim besetzte und Krieg über den Donbass brachte – und die
       Bundesregierung dennoch das Go für die Gaspipeline Nord Stream 2 gab.
       
       „Frank-Walter Steinmeier ist einer der Schlüsselprotagonisten der
       sozialdemokratischen Ostpolitik der letzten 20 Jahre“, betont Stefan
       Meister, Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige
       Politik (DGAP). Der Politikwissenschaftler kritisiert seit Langem die
       deutsche Position gegenüber Russland. „Die Ostpolitik der SPD und der
       Gedanke an die Versöhnung mit Russland haben Steinmeier stark geprägt, da
       kommt er nicht raus“, sagt Meister der taz.
       
       Meister wirft dem Bundespräsidenten vor: „Er hat den Balten und den Polen
       und auch den eigenen Leuten, die vor Russland gewarnt haben, nicht
       zugehört.“ Steinmeier habe nicht verstanden, wie das System Putin
       funktioniert. Dies habe er aber spätestens 2012 begreifen müssen – „als
       Dimitri Medwedew als Staatschef abtrat und Putin als Präsident im Innern
       den Westen als Feindbild und Deutschland als Gegner aufgebaut hat. Oder
       zumindest 2014 mit dem Angriff auf die Krim und den Donbass“.
       
       ## Zustimmung für Selbstkritik und Fehlergeständnisse
       
       Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit ist der Druck auf den Bundespräsidenten
       so groß, wie er es in der ersten nie war. Vielleicht wäre es, wenn der
       Krieg in der Ukraine früher begonnen hätte, zu dieser zweiten Amtszeit gar
       nicht gekommen. Zwar hatte Steinmeier unmittelbar nach seiner Wiederwahl,
       elf Tage vor Kriegsbeginn, an den Kreml-Chef appelliert: „Lösen Sie die
       Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden
       in Europa bewahrt“ – und [2][war für diese klaren Worte gelobt worden].
       Doch die verheerenden Fehleinschätzungen in der Vergangenheit greifen
       Steinmeiers Autorität an. Die aber ist zentral für einen Bundespräsidenten,
       der vor allem durch Worte und Gesten wirkt.
       
       Unterstützer Steinmeiers verweisen darauf, dass es aus heutiger Sicht
       leicht sei, die damalige Politik zu kritisieren. Auch sei dieser wahrlich
       nicht der einzige, der sich in Putin geirrt habe. „Die Kritik am
       Bundespräsidenten weisen wir zurück“, heißt es auch aus der
       Bundesregierung. Doch Anfang der Woche war der Druck so groß, dass
       Steinmeier Fehler in der deutschen Ostpolitik der vergangenen zwei
       Jahrzehnte eingestand, er sprach von einer „bitteren Bilanz“. „Mein
       Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler“, sagte
       Steinmeier. „Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr
       geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.“ Und weiter:
       „Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen
       Hauses, in das Russland einbezogen wird.“
       
       In einem Spiegel-Interview an diesem Wochenende legt er nach: „Wir müssen
       jetzt ganz genau aufarbeiten, wo wir Fehler gemacht haben“, sagt Steinmeier
       darin. Das gelte für ihn und „Generationen von Politikern“. Aus der
       Opposition bekam er für seine selbstkritischen Worte Zustimmung. Er wolle
       dem Bundespräsidenten dafür „großen Respekt zollen“, sagte CDU-Chef
       Friedrich Merz. Es sei alles andere als selbstverständlich, dass ein
       amtierendes Staatsoberhaupt so etwas sage. Die Union allerdings hatte
       Steinmeiers Wiederwahl auch unterstützt – und aus ihren Reihen stammt mit
       Angela Merkel die langjährig verantwortliche Regierungschefin.
       
       ## Finnlands Sorge um Unversehrtheit
       
       Im Parlament begrüßt Selenski neben den Finnen auch den deutschen
       Bundespräsidenten, in seiner Rede spricht er Deutschland aber nicht an. Der
       ukrainische Präsident beschreibt den russischen Angriff auf den Bahnhof von
       Kramatorsk, der viele Zivilisten das Leben kostete, ruft die furchtbaren
       Bilder aus Butscha auf und fordert schwere Waffen und Sanktionen, die so
       wirken wie ein „Molotowcocktail“. Den Ukrainern würde immer wieder gesagt,
       dass sie warten müssen. „Wir sind Finnland dankbar, das sie nicht gewartet
       haben“, sagt Selenski dann. Finnland hat die Ukraine früh mit Waffen
       unterstützt. In dem Lob für die Finnen schwingt, wenn auch unausgesprochen,
       Kritik an den aus ukrainischer Sicht zögerlichen Deutschen mit.
       
       Steinmeiers erste Auslandsreise in seiner zweiten Amtszeit sollte
       eigentlich nach Polen gehen, eine bewusste Entscheidung. Dann infizierte er
       sich mit Corona, die Polenreise musste verschoben werden, Finnland rückte
       auf Platz eins – und auch das passt recht gut.
       
       Das EU-Land hat eine 1.300 Kilometer lange Grenze zu Russland, bis 1917
       gehörte es zum Russischen Reich. Im Kalten Krieg galt das, was man
       „Finnlandisierung“ nennt; das Land berücksichtigte die Interessen der
       benachbarten, mächtigen Sowjetunion gewissermaßen freiwillig. Danach blieb
       es neutral, näherte sich aber der Nato an, ohne Mitglied zu werden. Seit
       dem Angriff auf die Ukraine aber steigt die Sorge um die eigene
       Unversehrtheit weiter an – und die Zustimmung in der Bevölkerung zu einem
       Nato-Beitritt, bislang ein Tabu. Inzwischen spricht sich in Umfragen eine
       Mehrheit der Finn:innen für einen Beitritt aus.
       
       ## Cyberangriffe während des Programms
       
       „Welche Entscheidung Finnland auch immer fällt: Ihr könnt jedenfalls sicher
       sein über deutschen Rückhalt“, sagt Steinmeier dazu auf einer
       Pressekonferenz mit dem finnischen Präsidenten im Spiegelsaal in dessen
       Palais. Umgeben von goldenem Stuck und unter riesigen Kronleuchtern betont
       Steinmeier, seine Botschaft sei ganz klar: „Wir stehen fest an Finnlands
       Seite.“
       
       Den russischen Angriffskrieg verurteilt der Bundespräsident erneut scharf.
       „Russland allein ist verantwortlich für das barbarische Blutvergießen in
       der Ukraine. Und Russland muss es beenden.“ Und er appelliert an den
       Kreml-Chef: „Herr Präsident, stoppen Sie diesen Wahnsinn!“ Niinistö, der
       finnische Präsident, der neben ihm steht, äußert sich ähnlich. Auch er
       betont, der Angriff auf die Ukraine führe zu einer neuen Sichtweise über
       Sicherheit. „Das war ein Schock für uns alle.“
       
       Zu Steinmeiers Programm in Helsinki gehört auch ein Besuch im Europäischen
       Exzellenzzentrum für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen – eine von 31
       Staaten getragene Einrichtung, die seit 2017 Analyse und Beratung zur
       Abwehr beispielsweise von Cyber-Attacken leistet. Wie real diese Gefahr
       ist, zeigt sich auch an diesem Tag: Während der Rede Selenskis gibt es
       Cyber-Angriffe auf die Webseiten des finnischen Außen- und
       Verteidigungsministeriums, mutmaßlich aus Russland. Am Morgen habe zudem
       ein russisches Flugzeug mehrere Minuten lang den finnischen Luftraum
       verletzt, heißt es später im Exzellenzzentrum.
       
       ## War schon oft in Kiew
       
       Während Steinmeier in Helsinki Gespräche führt, reiste
       EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen nach Kiew. Wie sie und
       Selenski sich beide Hände reichen, das ist ein starkes Bild. Auch
       Steinmeier denkt über eine Reise in die ukrainische Hauptstadt nach. Es
       gebe nur wenige Hauptstädte der Welt, in denen er so oft gewesen sei wie
       dort, sagt er.
       
       Als auf dem [3][Maidan in Kiew 2014 tödliche Schüsse fallen], hat er im
       Präsidentenpalast mit dem prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch
       über ein Ende des erbitterten Machtkampfes verhandelt. Auch wegen des
       Minsker Abkommens, das er maßgeblich mitverhandelt hat, war Steinmeier
       häufig in der ukrainischen Hauptstadt.
       
       „Selbstverständlich denke ich auch darüber nach, wann der richtige
       Zeitpunkt ist für meinen nächsten Besuch in Kiew“, sagt Steinmeier im
       finnischen Präsidenten-Palais. Wenn er nicht zu lange wartet, wäre das
       endlich ein starkes Bild.
       
       9 Apr 2022
       
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