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       # taz.de -- Buch über Hip-Hop-Produzent J Dilla: Besonderes Taktgefühl
       
       > Der Autor Dan Charnas hat die Biografie „Dilla Time“ veröffentlicht.
       > Darin bekommt der Detroiter Produzent J Dilla eine längst überfällige
       > Würdigung.
       
   IMG Bild: Immer zu wenig bekannt: HipHop-Produzent J Dilla, fotografiert von Brian Cross
       
       Heute ist es Produktionsstandard und wird an US-Jazzschulen unterrichtet:
       verschleppte Snaredrum, in alle Richtungen fliehende Bassdrum und
       HiHat-Becken, die wie Klapperschlangen zischen und damit ungerade Beats
       erzeugen. Die maschinelle Forschung am HipHop-Sound des 21. Jahrhunderts
       hat jedoch mindestens sieben Jahre vor dem Millennium begonnen. Folgende
       Adjektive haben Zeitzeug:Innen verwendet, als sie den visionären Sound
       vernommen haben: „schlampig“, „hinkend“, „beschwippst“, „ab vom Schuss“.
       
       Und so könnte sich die Klangforschung zugetragen haben: In einem
       Geheimlabor, eigentlich dem Keller eines Hauses im Detroiter Viertel Conant
       Gardens, sitzt der damals 20-jährige James Dewitt Yancey, von allen Jay Dee
       genannt oder Dilla genannt, friemelt aus einem Sampler-Schacht eine
       klemmende Floppydisc heraus und bringt das defekte Gerät, das seinem Mentor
       Joseph A. Fiddler, genannt Amp Fiddler, gehört, wieder zum Laufen.
       
       All diese Szenen erfährt man in dem Buch „Dilla Time“ des New Yorker Autors
       Dan Charnas. Fiddler wundert sich, wie selbstständig Dilla mit
       elektronischen Geräten hantiert und wie leicht der Youngster aus kniffligen
       technischen Problemen die optimale musikalische Lösung extrahiert. Der
       Junge habe ein traumhaftes Rhythmusgefühl, kenne die Strukturen von alten
       Soul- und Funksongs exakt und weiß, wie man ihre Strophen und Refrains so
       abwandelt, bis sie gesampelt völlig unorthodox klingen.
       
       ## Basiswissen mit Taperekorder und Pausentaste
       
       Amp Fiddlers kleines Homestudio dient als Labor, in dem J Dilla, der Azubi,
       täglich vorbeikommt, sich Amps Equipment aneignet und anfängt, damit
       radikal anders zu produzieren. „Wooooo“ sagt er nur, wenn er wieder einen
       Track fertiggestellt hat. Zuvor hatte er mit Kassettenrekorder und
       Pausentaste bereits Loops fabriziert. Das Basiswissen verfeinert er mit
       Drum Machine und Sampler, zieht von alten Platten kurze Ausschnitte,
       schneidet einzelne Ingredienzien heraus (slicing) und setzt die Fragmente
       mithilfe des Samplers neu zusammen (chopping), um damit eigene Stücke zu
       arrangieren.
       
       In der Musik von J Dilla überlagern sich Jazz, Soul, Gospel, Klassik –
       Basslinien, Drumbeats, Melodien und Kadenzen. Zugleich prägt ihn der
       elektronische Dancesound, wie er in den 1980er Jahren von Detroiter
       Radio-DJs wie Electrifying Mojo gespielt wurde: Oldschool-HipHop, Eurodisco
       und Funk. All die unterschiedlichen Codes und Rhythmen, Beats und Reime
       bringt Dilla zum Pulsieren; das Wirrwarr aus Alt und Neu, aus Anspannung
       und Entspannung, löst er nicht auf, sondern lässt alles in seiner Musik
       kulminieren.
       
       „Klingt wie ein Buch, das aus dem Regal fällt“, denkt [1][Ahmir „Questlove“
       Thompson], Drummer der damals noch unbekannten HipHop-Crew The Roots aus
       Philadelphia, als er den Song „Bullshit“ seiner Freunde The Pharcide aus
       Los Angeles 1995 hört, den Dilla produziert hat: Das rhythmische Klatschen
       des Drumbeat komme immer einen Tick zu spät. „Da stimmt was nicht mit der
       Snaredrum, die holpert“, glaubt der Toningenieur Bob Power, als er „Word
       Play“ vom New Yorker Trio A Tribe Called Quest 1996 im Studio vorgespielt
       bekommt, ebenfalls produziert von Dilla.
       
       ## Credits für hunderte Tracks
       
       Dessen Diskografie weist Hunderte von Tracks auf: Stars wie [2][Common],
       [3][D’Angelo] und [4][Erykah Badu] profitieren von seinen Arrangements.
       Dilla selbst veröffentlicht zu Lebzeiten nur einige wenige Soloalben, dafür
       macht er unzählige Auftragsarbeiten. Noch heute werden unveröffentlichte
       Tracks von Dilla – ob legal oder nicht – veröffentlicht.
       
       Inzwischen zählt der markante Sound von J Dilla zur Weltkultur. Der oben
       erwähnte Sampler ist neben anderen von ihm benutzten Instrumenten seit 2014
       im [5][National Museum of African American History & Culture] in der
       US-Hauptstadt Washington ausgestellt. Die Geschichte hat eine tragische
       Seite, Dilla wurde erst posthum berühmt, er verstarb 2006 im Alter von 32
       Jahren an einer seltenen Blutkrankheit, seinen wachsenden Einfluss konnte
       er zeitlebens nur zu bescheidenen Erfolg ummünzen.
       
       Der New Yorker Autor Dan Charnas nähert sich dem Leben und Schaffen dieser
       nach wie vor unterschätzten Künstlerpersönlichkeit nun an. Für sein Buch
       „Dilla Time“ interviewte er mehr als 200 Kolleg:innen, Freunde und
       Mitglieder von Dillas Familie in Detroit und hat über mehrere Jahre
       recherchiert. Herausgekommen ist ein packend geschildertes,
       faktengesättigtes und über die HipHop-Szene und das Genre Musiker-Biografie
       weit hinausreichendes Kulturpanorama.
       
       ## Errungenschaften, nachhaltig erklärt
       
       Es fächert nicht nur den Künstler und seine Zeit auf, sondern
       veranschaulicht Dillas Musik so, dass der Wert seiner Ideen und
       Errungenschaften nachhaltig geklärt wird. Sogar alte Stadtpläne helfen mit,
       das Rhythmusgefühl von Dilla zu erhellen. „Dilla Time“, der Buchtitel, ist
       doppeldeutig und spielt mit der von Dilla geprägten HipHop-Ära zwischen
       1993 und 2006, aber auch mit seinem unnachahmlichen Taktgefühl. HipHop
       klingt seit Dillas Innovationen anders, hat mehr Ecken und Kanten, weist
       zugleich in die Zukunft und atmet die Musikgeschichte cool in die Gegenwart
       aus.
       
       „Dilla Time“ erhöht das Lektürevergnügen zudem, weil Leser:Innen
       mitzählen müssen: Grafiken veranschaulichen auch für Unmusikalische und
       HipHop-Unkundige, wie Dilla in seinen Rhythmen Takte ausgewählt hat, warum
       er sie subtil abweichen lässt von der musikalischen Norm. Weshalb sie mit
       Jazz, Funk und Soul verwandt sind und wieso Dilla die jeweiligen Rhythmen
       für welche Künstler:Innen ausgewählt hat.
       
       So sehr diese Dillas ingeniöse Kompositionstechniken geschätzt haben,
       Majorlabel-Manager haben ihn dagegen teils stiefmütterlich behandelt und
       fertige Arbeiten abgelehnt. Trotzdem einigen sich auf die Künstlerfigur
       Dilla sowohl eingefleischte Undergroundrap-Apologeten als auch der
       slicke US-Mainstream.
       
       „Dilla Time“ besticht auch, weil es die idiosynkratische Klangphilosophie
       eines komplizierten Künstlers verständlich und von seinen Vorbildern
       abgeleitet erzählt; weil die altbekannten Klischees über das halbseidene
       HipHop-Game nur gestreift werden und mehr über Dillas Heimatstadt Detroit,
       das Kulturleben seiner afroamerikanischen Community und die Alltagssorgen
       einer Patchworkfamilie geschildert werden.
       
       Wo es Unstimmigkeiten in der Verifizierung gibt, bringt Charnas die
       Widersprüche in Fußnoten zur Geltung und lässt so äußerst elegant Luft aus
       den Mythen entweichen, bis ein Held wieder zum Menschen wird.
       
       Auch daher gilt: Dillas Zeit war, ist und wird immer sein.
       
       12 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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