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       # taz.de -- Kämpfe im Nordirak: Zwischen den Fronten zerrieben
       
       > Im Nordirak greift die Türkei die kurdische PKK an, und die irakische
       > Armee die jesidische YBŞ-Miliz. Wieder müssen jesidische Zivilisten
       > flüchten.
       
   IMG Bild: Rauch steigt auf an der türkisch-irakischen Grenze am 19. April 2022
       
       Istanbul taz | Nach einem Besuch der irakisch-türkischen Grenzregion zu
       Beginn dieser Woche sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar:
       „Bei den Terroristen der PKK herrscht Panik.“ Und: Der türkische
       Militäreinsatz in der Region verlaufe bisher sehr erfolgreich.
       
       [1][Am 18. April begann die Türkei ihren Einsatz] im Nordirak. Zu Anfang
       bombardierte die Luftwaffe Ziele in den irakischen Grenzprovinzen Zap,
       Avasin und Metina, danach wurden Fallschirmjägereinheiten aus Hubschraubern
       abgesetzt. Akar sagt, es gehe bei der Mission darum, grenznahe Verstecke
       der PKK auszuheben. Bislang hätte man 82 Höhlen, die der PKK als Stellungen
       oder als Verstecke für Nachschubmaterial gedient hätten, zerstört.
       
       Dabei seien insgesamt 61 „Terroristen“ getötet worden. Über die eigenen
       Verluste machte Akar keine Angaben, es gibt aber in den türkischen Medien
       immer wieder Berichte über „Märtyrer-Bestattungen“ der im Nordirak
       gefallenen Soldaten. Demnach sind mittlerweile um die 10 bis 20 Kämpfer
       getötet worden.
       
       Das Ziel der „Claw-Lock“ genannten Militäroperation ist es, die als
       Terrorgruppe geltende PKK, die seit 1984 einen bewaffneten Kampf gegen die
       Türkei führt, militärisch zu schwächen, sodass sie nicht mehr in der Lage
       ist, Ziele in der Türkei anzugreifen. Anders als in früheren Jahren gibt es
       dazu jetzt offenbar Absprachen mit der kurdischen Autonomieregierung unter
       Präsident Nêçîrvan Barsanî im Nordirak, wie auch mit der irakischen
       Zentralregierung in Bagdad. Vor Beginn der Militäroperation war der
       Ministerpräsident der kurdischen Autonomieregierung, Masrur Barzani, in der
       Türkei und hatte sich mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan besprochen.
       
       Insbesondere soll es bei dem Treffen darum gegangen sein, dass die
       türkische Armee verbindlich zugesagt hatte, irakisch-kurdische Zivilisten
       aus den Kämpfen herauszuhalten. Wenige Tage nach dem türkischen Einmarsch
       erklärte die irakische Zentralregierung gegenüber dem türkischen
       Botschafter in Bagdad ihren Protest gegen den Einmarsch im Norden – eher
       eine Pro-forma-Reaktion.
       
       ## Nichtstaatliche bewaffnete Gruppen werden bekämpft
       
       Seit Oktober 2020 gibt es ein Abkommen zwischen dem Irak und der Türkei, in
       dem festgehalten wurde, dass nichtstaatliche bewaffnete Gruppen nicht mehr
       geduldet und eventuell gemeinsam bekämpft werden. Das Abkommen wurde von
       der Türkei und den USA unterstützt. Es richtet sich auch gegen den
       Islamischen Staat (IS), vor allem aber gegen die PKK und mit ihnen
       verbundene Organisationen.
       
       In der nordirakischen Region Sindschar (Shingal) ist auch die jesidische
       YBŞ-Miliz aktiv. Während das irakische und das autonom-kurdische Militär
       die [2][Jesiden bei den barbarischen Angriffen des Islamischen Staates
       (IS)] im Sommer 2014 im Stich ließen, kam ihnen die PKK zur Hilfe. Bis
       heute wird die YBŞ von der Gruppe unterstützt. Viele Jesiden sind gegen das
       Abkommen: Sie fürchten, dass äußere Kräfte sie im Fall eines erneuten
       Angriffs wieder sich selbst überlassen würden, und möchten sich daher
       selbst verteidigen dürfen.
       
       Die irakische Zentralregierung und die vom Barsanî-Clan dominierte autonome
       kurdische Regierung im Nordirak möchten die PKK gerne loswerden. Seit diese
       1998 mit dem Adana-Abkommen auf Druck der Türkei aus Syrien verwiesen
       wurde, hat sie ihr Hauptquartier in die nordirakischen Kandil-Berge
       verlegt. Da sie bei ihren Aktionen wenig Rücksicht auf die Interessen der
       autonomen kurdischen Regierung nimmt, ist deren Solidarität mit der PKK
       weitgehend aufgebraucht.
       
       Anfang der Woche hatte die irakische Armee begonnen, die YBŞ-Miliz im
       Distrikt Sindschar anzugreifen. Die Operation der irakischen Armee spielt
       der Türkei in die Hände: In Sindschar liegt der bisher von der PKK
       kontrollierte Grenzübergang nach Nordostsyrien, wo auch die ihnen
       nahestehenden YPG-Milizen ihren Sitz haben.
       
       ## Wieder müssen jesidische Zivilisten flüchten
       
       Der jesidische Aktivist Murad Ismael [3][berichtet auf Twitter], dass
       mittlerweile über 1.000 Familien die Region aufgrund der anhaltenden Kämpfe
       verlassen hätten – eine „[4][zweite Phase der Vertreibung“] der Jesiden,
       schreibt er.
       
       Am Mittwochabend [5][gab North Press Agency], eine alternative syrische
       Nachrichtenagentur, bekannt, dass sich die Lage beruhigt habe: Die YBŞ und
       die irakische Armee hätten miteinander verhandelt und eine Einigung
       erzielt.
       
       Von den westlichen Staaten ist wenig zu hören – weder zu den türkischen
       noch zu den irakischen Übergriffen. Gerade jetzt, da Präsident Erdoğan als
       möglicher Vermittler zwischen Russland und der Ukraine für Nato und EU
       wieder wichtiger geworden ist, hält man sich mit Kritik vornehm zurück.
       
       Mitarbeit: Lisa Schneider
       
       5 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Konflikt-zwischen-Tuerkei-und-Kurden/!5846435
   DIR [2] /Sexuelle-Gewalt-als-Kriegswaffe-des-IS/!5032540
   DIR [3] https://twitter.com/murad_ismael/status/1521836147722563584?s=20&t=KPdGW_lvLB3FF4Rl4w2nhw
   DIR [4] https://twitter.com/murad_ismael/status/1521264401323597826?s=20&t=KPdGW_lvLB3FF4Rl4w2nhw
   DIR [5] https://npasyria.com/en/77219/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
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