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       # taz.de -- So geht ein Parteiausschluss: Ene, mene, muh – und raus bist du?
       
       > Schröder, Palmer, Sarrazin – sie alle haben Probleme mit ihrer
       > Parteimitgliedschaft. Doch wie geht ein Parteiausschluss vonstatten?
       
   IMG Bild: Aus dieser Perspektive sieht der Willy Brandt aus Bronze erzürnt aus
       
       ## Wann darf eine Partei ein Mitglied ausschließen? 
       
       Parteien sollen sich voneinander unterscheiden. Denn bei Wahlen zählen auch
       Inhalte, nicht nur Personen. Deshalb können Parteien sicherstellen, dass
       ihre inhaltliche Ausrichtung sichtbar bleibt, indem sie Mitglieder
       ausschließen, die unpassende Positionen vertreten oder ihre Glaubwürdigkeit
       stark beeinträchtigen. Allerdings sollen Parteien laut Grundgesetz auch
       demokratisch aufgebaut sein. Daher muss verhindert werden, dass ein
       Parteivorstand Mitglieder ausschließen kann, die nicht exakt seiner Linie
       folgen. Auch innerhalb einer Partei muss eine Opposition möglich sein.
       
       Laut Parteiengesetz kann ein Mitglied deshalb nur dann ausgeschlossen
       werden, wenn es vorsätzlich gegen die Satzung, erheblich gegen Grundsätze
       oder die Ordnung der Partei verstößt und ihr so schweren Schaden zufügt.
       
       ## Wie läuft ein Parteiausschlussverfahren denn nun genau ab? 
       
       Über Parteiausschlüsse entscheiden nicht die Parteivorstände, sondern
       parteiinterne Schiedsgerichte. Diese werden von den Mitgliedern oder
       Delegierten gewählt. Die Verfahren sollen ähnlich fair und neutral ablaufen
       wie auch staatliche Gerichtsverfahren. Meist stehen mehrere Instanzen zur
       Verfügung, vom Kreisschiedsgericht bis zum Bundesschiedsgericht.
       
       Falls das parteiinterne Verfahren mit einem Ausschluss oder einer anderen
       Sanktion endet, kann das betroffene Mitglied zusätzlich staatliche Gerichte
       anrufen. Auch hier stehen wieder drei Instanzen zur Verfügung, vom
       Landgericht bis zum Bundesgerichtshof. Ein Ausschlussverfahren kann also
       jahrelang dauern.
       
       Die staatlichen Gerichte müssen die Entscheidungen der Parteigerichte
       jedoch im Kern akzeptieren. Ob die Grundsätze der Partei erheblich verletzt
       wurden und ob dabei der Partei schwerer Schaden entstanden ist, das
       entscheiden die parteiinternen Gerichte nach ihren eigenen Maßstäben. Die
       staatlichen Gerichte können einen Parteiausschluss nur beanstanden, wenn
       dieser willkürlich oder „grob unbillig“ (also völlig überzogen) war.
       
       ## Wie geht es weiter mit Ex-SPD-Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder? 
       
       In der SPD kann jede Parteigliederung aus dem ganzen Bundesgebiet den
       Ausschluss eines SPD-Mitglieds beantragen. Im Fall von Ex-Kanzler Gerhard
       Schröder wurde der erste Ausschlussantrag am 2. März 2022 vom Kreisverband
       Heidelberg gestellt. Inzwischen gibt es 14 Anträge auf ein
       Parteiordnungsverfahren gegen Schröder.
       
       Was ihm jeweils vorgeworfen wird, unterliegt laut SPD-Schiedsordnung der
       Verschwiegenheit. Aber vermutlich wird Schröder vorgehalten, dass er trotz
       des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine seine
       lukrativen Posten bei russischen Staatsfirmen behält.
       
       Da Schröder Mitglied im SPD-Ortsverein Hannover-Oststadt/Zoo ist, wird das
       Verfahren bei der Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Region Hannover
       geführt. Diese bereitet derzeit eine mündliche Verhandlung vor. Gerhard
       Schröder ist zwar selbst Anwalt, kann sich aber auch anwaltlich vertreten
       lassen. Die Anwält:in müsste dann allerdings SPD-Mitglied sein.
       
       Warum dauerte es zehn Jahre bis zum SPD-Ausschluss von Thilo Sarrazin? 
       
       Im Fall von Thilo Sarrazin, der von 2002 bis 2009 Berliner Finanzsenator
       war, gab es drei Ausschlussverfahren. Im ersten ging es um ein Interview,
       in dem Sarrazin 2009 sagte, eine große Zahl an Arabern und Türken in Berlin
       habe „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“. Die
       Berliner Landesschiedskommission der SPD lehnte im März 2010 einen
       Ausschluss ab. Die Äußerungen seien provokant, aber nicht rassistisch.
       
       Nachdem Thilo Sarrazin in seinem 2010 erschienenen Buch „Deutschland
       schafft sich ab“ über kulturelle und genetische Intelligenzunterschiede von
       Migrant:innen schrieb, gab es ein zweites Ausschlussverfahren, beantragt
       auch vom SPD-Bundesvorstand. Das Verfahren endete im April 2011 mit der
       Rücknahme der Ausschlussanträge. Sarrazin hatte zuvor versichert, er
       vertrete keine sozialdarwinistischen Theorien und verlange keine selektive
       Bevölkerungspolitik.
       
       Acht Jahre später kam es zum dritten Ausschlussverfahren. Diesmal [1][war
       der Antrag des SPD-Parteivorstands in drei parteiinternen Instanzen
       erfolgreich]. Sarrazin verstoße, so die Bundesschiedskommission im Juli
       2020, etwa gegen das Grundsatzprogramm der SPD, wenn er in seinem Buch
       „Feindliche Übernahme“ fordere, die Einwanderung von Muslimen zu
       beschränken oder zu unterbinden. Sarrazin verzichtete letztlich darauf,
       gegen den Parteiausschluss vor staatlichen Gerichten zu klagen.
       
       ## Wem nutzte der Vergleich im Ausschlussverfahren der Grünen gegen Boris
       Palmer? 
       
       Der baden-württembergische Landesvorstand der Grünen beantragte Ende 2021
       einen Parteiausschluss des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer. Ihm
       wurden 23 Äußerungen der letzten zehn Jahre vorgehalten. Etwa habe er sich
       für eine bewaffnete Sicherung der EU-Außengrenzen gegen Flüchtlinge
       ausgesprochen. Der Ausschluss sei erforderlich, „um Bündnis 90/Die Grünen
       von einem hartnäckigen Störer der innerparteilichen Ordnung und Verletzer
       der Grundsätze der Partei zu befreien“, schrieb der Parteienrechtler
       Sebastian Roßner, der die Grünen vertrat. Zumindest sollten die
       Mitgliedschaftsrechte Palmers zwei Jahre ruhen, so der Hilfsantrag des
       Landesvorstands.
       
       Das Landesschiedsgericht der Grünen [2][schlug vorige Woche einen Vergleich
       vor]: „Aufgrund verschiedener Verstöße des Antragsgegners gegen Grundsätze
       und Ordnung der Partei ruht dessen Mitgliedschaft bis zum 31. 12. 2023.“
       Beide Seiten nahmen den Vorschlag an. Damit ist Palmer nun gemaßregelt,
       aber nicht ausgeschlossen.
       
       Für die Partei hat der Vergleich den Vorteil, dass Palmer damit auf
       Rechtsmittel verzichtet und keine juristische Blamage droht. Auch für
       Palmer ist das Ruhen der Mitgliedschaft sinnvoll. Denn als Grüner dürfte er
       bei der OB-Wahl im Oktober nicht gegen die von den Grünen inzwischen
       aufgestellte OB-Kandidatin Ulrike Baumgärtner antreten. Als vorübergehend
       Nicht-Grüner kann er es.
       
       29 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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