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       # taz.de -- Nach dem Krieg: Wenn Putin siegt
       
       > Der Kreml darf keine Chance haben, international wieder hoffähig zu
       > werden, bevor die Machthaber in Moskau eine demokratische Umwandlung
       > vollziehen.
       
       Könnte Putin aus diesem [1][Krieg in der Ukraine] als Sieger hervorgehen
       und danach noch viele Jahre lang regieren, wobei er Russland völlig unter
       Kontrolle hielte und den Westen immer wieder angriffe? Schon die Frage
       allein erscheint heute ketzerisch. Trotzdem lohnt es sich, über sie
       nachzudenken, damit die Realität nach diesem Krieg für Westeuropa nicht
       wieder zu genau solch einer Überraschung wird, wie es sie am Anfang gab.
       
       Wir kommen um die wichtigste Frage nicht herum: Wie müsste denn eine
       militärische Niederlage Putins aussehen? Eine völlige Niederlage für Putin
       könnte nämlich nur darin bestehen, dass die ukrainische Armee Donezk,
       Luhansk und die Krim befreite. Ist so etwas in absehbarer Zeit denkbar?
       
       Nichts deutet vorläufig darauf hin. Selbst wenn es Putin auch nur gelingt,
       den Donbass unter seiner Kontrolle zu behalten, kann er das allein als Sieg
       hinstellen, denn rein formell betrachtet hätte sich die von Russland
       kontrollierte Zone innerhalb der Ukraine dadurch ausgeweitet.
       
       Unterdessen folgt aus Interviews und aus Erklärungen der ukrainischen
       Führung, vor allem von Präsident Selenski selbst, dass ein
       Befreiungsfeldzug auf der Krim überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht.
       Und es redet auch niemand im Ernst davon, die Regionen des Donbass von den
       russischen Besatzern zu befreien, die schon vor dem 24. Februar 2022 nicht
       mehr von der Ukraine kontrolliert wurden.
       
       So hat Präsident [2][Wolodimir Selenski bei einem Auftritt im staatlichen
       Fensehen am 4. April] erklärt, dass es schon ein Sieg für die Ukraine wäre,
       wenn sich Russland auf die vor dem 24. Februar 2022 eingenommenen
       Positionen zurückzöge. Sollten die Streitkräfte der Ukraine versuchen, die
       2014 besetzten Teile des Donbass zu befreien, „könnten wir auf einen Schlag
       bis zu 50.000 unserer kampftüchtigsten Armeeangehörigen verlieren“.
       
       ## Die Lage verschlechtert sich
       
       Selenskis Einschätzung erscheint sogar leicht optimistisch, da sich die
       Kampfhandlungen jetzt doch auf dem Territorium abspielen, das sich noch vor
       dem 24. Februar fest in den Händen der Ukraine befand, während sich die
       russische Armee, wenn auch mit großen Verlusten, auf die Grenzen der
       Regierungsbezirke Donezk und Luhansk zubewegt und dabei weiterhin Cherson,
       Melitopol und andere Ortschaften im Südosten der Ukraine besetzt hält.
       
       In den letzten Wochen hat sich die Situation noch wesentlich
       verschlechtert. Der Abzug der russischen Truppen aus der Umgebung von Kiew,
       den Putin als eine Geste des guten Willens ausgegeben hatte, verwandelte
       sich für das Image seiner Armee in eine Katastrophe. In den
       zurückgelassenen Städten entdeckte man die Spuren zahlreicher
       [3][Kriegsverbrechen – von Morden, Vergewaltigungen, Folter, Plünderungen].
       Die Tragödie von Butscha hat die Welt aufgewühlt.
       
       Im Kreml aber hat man allem Anschein nach aus dieser Geschichte ganz andere
       Schlüsse gezogen: Um weitere Skandale dieser Art zu vermeiden, hat man
       beschlossen, einmal eroberte ukrainische Gebiete nie mehr zu verlassen –
       jedenfalls nicht freiwillig. Deshalb werden in den nunmehr besetzten
       Gebieten alle Maßnahmen ergriffen, um sie Russland möglichst schnell
       einzuverleiben. So gesehen ist ein sowohl militärischer als auch
       politischer Sieg Putins leider schon jetzt eine realistischere Perspektive
       als seine Niederlage.
       
       Den gesamten ukrainischen Staat in so etwas wie das heutige Belarus zu
       verwandeln, ist zwar nicht mehr möglich. Aber eine Verpflichtung der
       Ukraine zur Neutralität und ihr Verzicht auf einen künftigen Nato-Beitritt
       erscheinen durchaus möglich. Und das alles wird man den Bürger_innen
       Russlands als Resultat einer erfolgreichen militärischen Aktion verkaufen –
       als die berühmt-berüchtigte Entmilitarisierung und Entnazifizierung.
       
       Jegliche Erweiterung der von Russland kontrollierten Gebiete innerhalb der
       Ukraine lässt sich erst recht als Sieg ausgeben, wie unangemessen der für
       diese territorialen Gewinne gezahlte Preis sich auch ausnehmen mag. Zumal
       Russlands reale Verluste, die menschlichen wie die materiellen, den meisten
       seiner Bürger_innen verborgen bleiben – jedenfalls bis zum Fall des
       Putin’schen Regimes.
       
       ## Der Krieg könnte Putins Macht stärken
       
       Anstatt zur Schwächung oder gar zum Zusammenbruch dieses Regimes kann der
       aktuelle Krieg leider immer noch zu dessen Festigung führen, es in Form
       einer noch grausameren, offen faschistischen Diktatur stabilisieren. In
       der wird dann die bedingungs- und grenzenlose Macht des Führers nicht mehr
       durch Wahlen oder deren Imitation legalisiert, sondern durch den errungenen
       Sieg und die damit verbundenen territorialen Gewinne.
       
       Wie realistisch die Hoffnungen auf einen unausweichlichen Zusammenbruch der
       Wirtschaft und einen darauf folgenden Zusammenbruch von Putins System sind,
       kann man schwer einschätzen. Die Ansichten der jeweiligen Experten über die
       Perspektiven der russischen Wirtschaft hängen stark von deren Beziehungen
       zu diesem Putin-Regime ab.
       
       Auf jeden Fall hat Putin noch einige Monate vor sich, bis die ökonomischen
       Schwierigkeiten für die Bevölkerung und die Machthaber zu einem wirklich
       großen Problem werden. Allem Anschein nach hofft er, dass man nach der
       unausweichlichen Unterzeichnung eines Friedensvertrags zu ihm genehmen
       Bedingungen gewisse Sanktionen gegen ihn aufhebt (was er ebenfalls als
       seinen Sieg ausgeben wird).
       
       Und dass in Europa dann die Anhänger der Versöhnung und des Handels mit
       Russland aktiv werden, was wiederum erlauben könnte, das Regelwerk der
       Sanktionen weiter aufzuweichen. Höchstwahrscheinlich hofft Putin, einem
       totalen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft zuvorzukommen. Vielleicht
       sieht er darüber hinaus sogar eine Chance, die russische Wirtschaft auf
       Dauer autark zu machen, sie noch weiter den Gesetzen des Marktes zu
       entfremden und der Kontrolle des Staates noch stärker zu unterwerfen.
       
       ## Protest ist nicht zu erwarten
       
       Man darf nicht vergessen, dass auch bei noch viel schlechteren
       Lebensbedingungen in Russland [4][kaum mit sozialen Protesten zu rechnen]
       ist. Die Vorstellung, Putin könne sein Regime sogar im Falle von
       Hungersnöten mit Polizeiterror aufrechterhalten, erscheint durchaus
       realistisch. Dass die Not der Bevölkerung Putin nicht im Geringsten
       interessiert, zeigen die Erfahrungen aus dem Ukrainekrieg.
       
       Mit derselben Kaltblütigkeit, mit der er den Beschuss friedlicher
       ukrainischer Städte anordnete, kann er auch Waffen aller Art gegen
       russische Bürger einsetzen, sobald die Proteste Massencharakter annehmen
       und für das Regime gefährlich werden. Die westliche Welt und vor allem
       Europa müssen sich auf eine zweifellos lang anhaltende, ideologische,
       ökonomische und sogar militärische Konfrontation mit Putins autoritärem,
       antidemokratischem, archaischem und konservativem Regime gefasst machen.
       
       Wir dürfen nicht damit rechnen, dass es sich bald selbst abschafft, ja
       nicht einmal damit, dass Russland nach dem Zusammenbruch dieses Regimes
       rasch ein normales Land würde: schon jetzt haben wir es mit einem System zu
       tun, das seit 23 Jahren mehr oder weniger erfolgreich existiert.
       
       Zu allem Überfluss wird aus dem blutigen Krieg in der Ukraine eine weitere,
       Putin gegenüber bedingungslos loyale Personengruppe unter den Bürgern
       Russlands hervorgehen: die Veteranen dieses Feldzugs, für die jede
       Alternative zum Putinismus nur eines bedeuten kann: Strafe für die von
       ihnen begangenen Kriegsverbrechen. Diese Leute werden bei jeder
       Terrorkampagne innerhalb Russlands den Stoßtrupp des Putinismus bilden und
       sich für den Erhalt dieses Systems einsetzen – sogar nach Putins Abgang.
       
       Aber auch ohne die mit Blut besudelten Veteranen des Ukrainekrieges sehen
       wir uns in Russland ganzen Generationen gegenüber, die unter Putin
       aufgewachsen sind oder zumindest einen entscheidenden Teil ihres
       Erwachsenenlebens unter ihm verbracht haben. Es wäre naiv zu erwarten, dass
       sich ohne aktives Einwirken von außen die Massen schnell enttäuscht von ihm
       abwenden.
       
       ## Rückendeckung von Veteranen
       
       Daran müssen wir arbeiten, dafür müssen wir kämpfen. Und zu dieser Arbeit
       mit der russischen Gesellschaft müssen wir heute und morgen die
       talentiertesten und von deren Sinn überzeugtesten Spezialisten hinzuziehen.
       An Mitteln dafür dürfen wir nicht sparen. Denn hier handelt es sich
       schließlich um Investitionen in die Sicherheit und Stabilität Europas und
       der Welt in naher und ferner Zukunft.
       
       Europa und die gesamte demokratische Welt müssen sich ihre gegenwärtige
       Unduldsamkeit gegenüber dem Putinismus bewahren und dürfen Putin auch nach
       dem Ende des Krieges nicht die geringste Chance einräumen, in der
       zivilisierten Welt wieder hoffähig zu werden.
       
       Auch die kleinste Inkonsequenz dem Kreml gegenüber, auch die kleinsten
       Konzessionen an ihn nach dem Ende der Kampfhandlungen werden Putins Regime
       nicht nur stärken, sondern auch seine Existenz noch verlängern und alle
       demoralisieren, die im Kampf gegen ihn ihre Freiheit und ihr Leben
       riskieren. Das zwangsläufige Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine
       bedeutet keineswegs das Ende der Krise auf diesem Kontinent, sondern
       erlaubt lediglich eine Pause vor ihrer nächsten Phase.
       
       Solange Putin in Russland regiert, ist ein neuer Krieg unvermeidlich. Und
       sogar nach seinem Abgang dürfen wir uns auf keinen Fall mit kosmetischen
       Reparaturen zufriedengeben. Europa hat das Recht und die Pflicht, von neuen
       Machthabern in Russland tiefgreifende demokratische Umgestaltungen zu
       fordern. Dazu gehören die Entfernung von politisch belasteten
       Mitarbeiter_innen aus dem öffentlichen Dienst, die Bestrafung von
       Kriegsverbrechern und die Abschaffung von repressiven Gesetzen.
       
       Dieser Artikel eröffnet zugleich ein Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung mit
       Beiträgen von Partner*innen aus der russischen Zivilgesellschaft:
       boell.de/russlands-andere-stimmen
       
       30 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=7e0r3JTYhas
   DIR [3] /Russische-Massaker-in-der-Ukraine/!5843136
   DIR [4] /Russische-Massaker-in-der-Ukraine/!5843136
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fjodor Krascheninnikow
       
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