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       # taz.de -- Deutsche Kampfbereitschaft: Was tun, wenn's brennt?
       
       > Klar unterstützen wir die Ukraine! Aber würden wir auch selber zu den
       > Waffen greifen? Wir mogeln uns um die Kriegsfrage herum.
       
   IMG Bild: Noch Gedankenspiele: wer würde zur Waffe greifen?
       
       Es sind schmerzhafte Gedanken, sie sind schwer zu ertragen, sie machen mich
       ratlos. Mein Vater war von 1933 bis 1945 Berufssoldat in Hitlers Wehrmacht,
       die Russland überfiel. Müssen wir uns heute darauf vorbereiten gegen
       Russland Krieg zu führen, frage ich mich, meine Freunde, meine Kinder.
       
       Ich bin 60, habe in den 1980er Jahren den Kriegsdienst verweigert und
       Zivildienst in einer Umweltinitiative geleistet. Ich bin ein
       hedonistischer, ironischer Zivilist. Zum letzten Mal geprügelt habe ich
       mich vor 30 Jahren. Statt Taekwondo zu lernen, tanze ich Tango. Ich habe
       abgerüstet. Wir haben abgerüstet. Was sind jetzt unsere Antworten auf den
       russischen Angriff in der Ukraine?
       
       Manche politische Reaktionen sind naheliegend. Wirtschaftliche Sanktionen,
       [1][Energieembargo], Waffenlieferungen – kann man machen, wird teils schon
       gemacht. Aber damit halten wir uns den Krieg auf Distanz. Weit im Osten
       kämpfen die Ukrainer:innen, während hier das alltägliche Leben weitgehend
       normal weiterläuft. Die wirklich kritischen Punkte schieben wir beiseite,
       wir mogeln uns um die Kriegsfrage herum.
       
       Was jedoch würde passieren, wenn die russische Regierung den nächsten
       Schritt täte und [2][beispielsweise die Republik Moldau angriffe]? Die
       Ansage des russischen Generals Rustam Minnekajew, [3][die ganze Südukraine
       bis nach Transnistrien zu beanspruchen], einen noch immer russisch
       besetzten Teil Moldawiens, deutet in diese Richtung. Oder die Moskauer
       Regierung kommt auf die Idee, eine Landverbindung zwischen Belarus und dem
       isoliert an der Ostsee liegenden Kaliningrad herstellen zu wollen. Das
       liefe auf einen Angriff auf die Nato-Staaten Polen und Litauen hinaus.
       
       ## Ein Stoppschild für Putin
       
       Es besteht die Gefahr, dass Wladimir Putins Machtanspruch unsere
       demokratischen Nachbarländer bedroht und sich so auch näher an uns
       heranfrisst. Ich aber will mich und das freiheitliche Europa nicht von
       einem imperialistischen Diktator herumschubsen, erpressen und bedrohen
       lassen. Europa und die Nato sollten der russischen Regierung jetzt ein
       Stoppschild hinstellen.
       
       Wer das genauso sieht, muss die Konsequenzen zu Ende denken. Den nächsten
       Angriff Russlands sollten die EU und Nato mit mehr beantworten als mit
       Reaktionen aus der Ferne. Das hieße, europäische Truppen, auch
       Soldat:innen der Bundeswehr würden kämpfen und sterben. Selbst die
       letzte Option stünde zur Diskussion. Zu Beginn des Überfalls auf die
       Ukraine hat Putin Europa mit Atomwaffen gedroht, wenn wir ihm in die Quere
       kommen. So frage ich mich: Sollten wir bereit sein, mit Atomwaffen zu
       antworten, um im Notfall die Selbstbestimmung der westlichen Demokratien zu
       sichern, oder werden wir beim nächsten Mal erneut aus der Distanz
       zuschauen?
       
       Und möglicherweise braucht Deutschland auch eigene Atomwaffen, um Europa
       zusammen mit Frankreich und Großbritannien zu verteidigen. Denn ob die
       US-Regierung im Rahmen der Nato dazu bereit wäre, ist fraglich, wenn
       beispielsweise Donald Trump oder ein anderer radikaler Republikaner die
       nächste Wahl gewinnt.
       
       Solche Erwägungen anzustellen und aufzuschreiben, fällt schwer. Sie
       widersprechen sehr vielem, was in den vergangenen 70 Jahren in Deutschland
       normal geworden ist. Wir haben uns an ein Leben ohne von Granaten zerfetzte
       Körper, ohne frische Kriegsgräber, zerstörte Wohnhäuser, Hunger und Flucht
       gewöhnt. Jetzt sind wir doch wieder vor Fragen gestellt, die wir eigentlich
       nicht mehr beantworten wollten.
       
       ## Der undenkbare Atomkrieg
       
       Mein Vater hat mir viel über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erzählt.
       Er wurde mehrmals verwundet, kam knapp davon. Sein linkes Bein war kürzer
       als das rechte. Handgranatensplitter steckten in seinem Körper. Ich habe
       Dutzende Bücher über die Epoche gelesen. Deshalb habe ich einen
       schemenhaften Eindruck von der Brutalität des Abschlachtens. Ich kenne die
       Fotos aus den durch US-Atombomben zerstörten Städten Hiroshima und
       Nagasaki. Trotzdem weiß ich nicht, worüber ich rede, wenn ich nun vom Sofa
       aus den Atomkrieg erwäge. Ich denke etwas Undenkbares. Ich starre aus dem
       Fenster in den Berliner Nachthimmel. Und schalte den Laptop aus.
       
       Neuer Versuch am nächsten Tag. Atomwaffen werden nicht eingesetzt, sondern
       dienen der Abschreckung. Die Nato-Regierungen in Washington, London und
       Paris sind bereit, Nuklearraketen loszuschicken, um gerade mit dieser
       Bereitschaft ihren Einsatz zu verhindern. In dieser Logik wird es nicht zu
       einem Atomkrieg um Moldawien oder Kaliningrad kommen. Schlage ich mich
       damit argumentativ in die Büsche? Mag sein.
       
       Was würde ich selbst tun, wenn der konventionelle Krieg zwischen Russland
       und der Nato stattfindet, über den ich hier nachdenke? Schätzungsweise bin
       ich fein raus, weil zu alt – die Bundeswehr will mich nicht mehr. Zöge ich
       ohne Waffenausbildung selbstorganisiert an die Front, schickten die
       internationalen Brigaden den Opa wohl nach Hause zurück. Aber vielleicht
       wären meine journalistischen Fähigkeiten gefragt – Propaganda,
       Nachrichtendienst, Kriegsberichterstattung. Darauf könnte ich mich
       einlassen.
       
       ## Selbst kämpfen? Oder besser auswandern?
       
       In Gesprächen mit Freunden und Familie teste ich meine Gedanken. Meine
       Ex-Frau sagt sofort: Wenn es so kommt, müssen wir damit rechnen, dass
       unsere Tochter und unser Sohn in die Bundeswehr eingezogen und kämpfen
       werden. Sie schüttelt den Kopf. Die eigenen Kinder in den Krieg schicken?
       Oder dafür mitverantwortlich sein? Das ist der grausamste Gedanke. Wer kann
       dazu Ja sagen? Ich nicht.
       
       Wahrscheinlich kommt es nicht dazu, beruhige ich mich. Es geht nicht um den
       dritten Weltkrieg, sondern um einen begrenzten Konflikt, den Berufssoldaten
       austragen und nicht Hunderttausende Wehrpflichtige als Kanonenfutter.
       Außerdem vertraue ich darauf, dass unsere Zivilistenregierung niemanden in
       den Krieg schickt, der oder die partout nicht will. Naiv? Hoffentlich
       nicht.
       
       Meine Tochter – sie ist 25 Jahre alt – erklärt: Für Nationalismus und
       Kapitalismus werde sie sich niemals opfern. Allenfalls, supertheoretisch,
       wenn es darauf ankäme, würde sie vielleicht ihre liebenswerte und bunte
       Heimatstadt Berlin verteidigen. Ihre gleich alte Freundin, mein Patenkind,
       sagt, sie würde mit ihrem Freund zu dessen Eltern nach Peru auswandern, um
       mit der Scheiße hier nichts zu tun zu haben. „Ich komme mit“, betont ihre
       Mutter. Ein anderer Freund rät seinen erwachsenen Söhnen: „Wenn es Krieg
       gibt, haut ab.“
       
       Ich taste mich an diese Fragen heran, teste die Antworten. Wäre ich bereit,
       mich in Gefahr zu begeben? Für mich persönlich schließe ich das nicht aus.
       Auf jeden Fall müssen wir darüber nachdenken, ob und wie wir kämpfen wollen
       und können. Nicht nur gegen den Klimawandel, sondern für unsere kollektive
       Selbstbestimmung und die unserer Nachbarn. Wird deren Freiheit liquidiert,
       ist auch unsere in Gefahr.
       
       1 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Umgang-mit-Gas-und-Oel-aus-Russland/!5845128
   DIR [2] /Konflikte-in-Ex-Sowjetrepubliken/!5836947
   DIR [3] https://www.zeit.de/news/2022-04/22/russland-will-volle-kontrolle-ueber-donbass-und-sued-ukraine
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hannes Koch
       
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