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       # taz.de -- Chefankläger von Nürnberger Prozessen: „Putin soll einen Prozess bekommen“
       
       > Der Jurist Benjamin Ferencz war nach dem Zweiten Weltkrieg Ankläger bei
       > den Nürnberger Prozessen. Er will Putin vor Gericht sehen.
       
   IMG Bild: „Wir haben den Krieg jahrhundertelang verherrlicht“: Ben Ferencz
       
       taz: Herr Ferencz, was halten Sie von dem großen Krieg, der jetzt auf
       europäischem Boden stattfindet? 
       
       Benjamin Ferencz: Es ist ein Skandal, was jetzt geschieht. Die wichtigsten
       Länder, der UN-Sicherheitsrat, aber auch der Papst und alle Meinungsführer
       müssen einen sofortigen Waffenstillstand zwischen [1][Russland] und der
       [2][Ukraine] fordern. Niemand sollte mehr schießen, die Waffen sollten
       niedergelegt werden, bis wir diesen Fall vor Gericht bringen.
       
       Und wie soll das gehen? 
       
       Es ist an der Zeit, die Waffen niederzulegen. Man kann einen Konflikt nicht
       dadurch lösen, dass man viele unschuldige Menschen tötet, denn genau das
       passiert gerade. Das ist beschämend und ein Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit. Die verantwortlichen Führungskräfte müssen sich daher vor
       Gericht verantworten.
       
       Welches Gericht sollte das tun? 
       
       Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist bereits seit Jahren
       tätig und kann sich mit dieser Angelegenheit befassen. Auch Streitigkeiten
       zwischen Ländern können dort beigelegt werden. Allerdings gibt es Probleme
       bei der Frage, wer dieses Gericht anerkennt. (Anm. d. Red.: Russland und
       USA tun das nicht)
       
       Wir haben das Jahr 2022. Erinnert Sie das alles an Ihr eigenes Leben und
       die europäische Geschichte? 
       
       Ja, die Geschichte wiederholt sich, wenn die Menschen nicht aus ihr lernen.
       Es scheint, dass sie den Krieg dem Frieden vorziehen.
       
       Sie haben für das Kriegsverbrecher-Tribunal in Nürnberg als Chefankläger
       und davor als US-amerikanischer Soldat am Omaha Beach in der Normandie
       gewirkt. 
       
       Ich hatte mit den deutschen Einsatzgruppen in Nürnberg zu tun. Es waren
       „Mordkommandos“, die in die Ukraine und in Länder wie Russland gegangen
       waren. Sie ermordeten kaltblütig jeden jüdischen Mann, jede jüdische Frau
       und jedes jüdische Kind, das sie in die Finger bekamen, sowie andere
       vermeintliche Feinde der extremen Rechten. Ich habe 22 hochrangige Nazis
       dafür angeklagt, und sie wurden alle innerhalb von zwei Tagen verurteilt.
       
       Haben Sie jetzt Angst vor einem großen Krieg in Europa? 
       
       Es ist entsetzlich, dass dies im Jahr 2022 geschieht. Es hat den Anschein,
       dass wir in die Zeit der Gesetzlosigkeit zurückkehren, als es noch keine
       Gerichte oder Regeln gab. Jetzt werden die Grundrechte verletzt und
       Menschen getötet.
       
       Der US-amerikanische Präsident Biden nannte Putin einen Kriegsverbrecher
       und forderte die Russen auf, ihn loszuwerden. Eine gute Idee? 
       
       Es wäre gut, wenn die Menschen ihre Differenzen nicht mit Gewalt austragen
       würden. Sie töten Unschuldige. Und es geht noch viel weiter mit ihrem
       Cyberkrieg und der Drohung eines Atomkriegs. Die Welt wird also zu einem
       gefährlichen Ort. Und wir hängen zu sehr an ein paar ehrgeizigen
       Politikern, die Politik machen und junge Menschen schicken, damit sie
       andere junge Menschen töten, die sie nicht einmal kennen.
       
       Furchtbar, oder? 
       
       Das ist es, was jetzt geschieht. Man sollte meinen, dass sie aus dem
       Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen mit dem Nürnberger Tribunal und den
       [3][Kriegsverbrechen] gelernt hätten. Dass Menschen für ihr Verhalten
       verantwortlich gemacht werden können, wenn sie für ihre Ideologie
       unschuldige Menschen töten. Das ist eine unmenschliche Art, Geschäfte zu
       machen. Wir können nicht auf diese altmodische Art und Weise weitermachen.
       
       Die westlichen Regierungen meiden eine direkte Intervention in der Ukraine.
       Sollten sie sich einmischen? 
       
       Sie sollten das tun, was notwendig ist, um das Töten zu stoppen. Das heißt
       aber nicht, dass sie mehr Menschen töten sollten. Dies ist eher ein Appell
       an das russische Volk. Die wollen doch auch keinen Krieg. Und die Ukrainer
       sowieso nicht.
       
       Was ist die Lösung? 
       
       Werft eure Waffen weg! Waffenstillstand! Das war früher eine normale Sache
       im Krieg. Ich war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Ich habe vom Pentagon fünf
       Sterne erhalten, weil ich nicht in den großen Schlachten des Krieges
       gefallen bin.
       
       Sie wurden vielfach geehrt. 
       
       Die Königin der Niederlande hat mir vor einigen Jahren eine Auszeichnung
       verliehen und ich habe alle möglichen Medaillen für mein Leben erhalten.
       Das war für den Frieden. Für mein Motto „Law, not war“ („Recht, nicht
       Krieg“). Und für meinen Slogan: „Niemals aufgeben“. Die Dinge sind besser
       geworden, aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Wir müssen uns
       den Gefahren stellen, denen wir ausgesetzt sind.
       
       Wie lassen sich Recht und Krieg vereinbaren? 
       
       Junge Menschen sind im Krieg am meisten gefährdet. Denn sie werden
       ausgesandt, um andere zu töten, die sie nicht einmal kennen. Das ist das
       derzeitige System. Das ist grausam. Sie sollten zivilisierte Menschen sein.
       Wenn Sie eine Straftat begehen, sind Sie verantwortlich. Man kann jemandem
       nicht in den Rücken schießen. Es gibt gute Ratschläge von Dwight D.
       Eisenhower, dem alliierten Befehlshaber im Zweiten Weltkrieg und
       Präsidenten der USA. In seiner Abschiedsrede sagte er: „Die Welt kann nicht
       länger auf Macht basieren. Wenn die Menschheit überleben will, muss sie die
       Rechtsstaatlichkeit akzeptieren“. Das ist mein Leitprinzip.
       
       In Den Haag wurden die Serben-Führer Milošević, Karadžić und auch Mladić
       angeklagt. Glauben Sie, dass Herr Putin in ein paar Jahren nach Den Haag
       gebracht werden wird? 
       
       Das kann ich nicht beantworten. Aber ich hoffe es. Es geht in diese
       Richtung. Es dauert eine Weile. Wir haben den Krieg jahrhundertelang
       verherrlicht. Du warst ein Held, wenn du so viele Menschen wie möglich
       getötet hast. Aber diese Gedanken müssen wir loswerden. Diese Zeiten sind
       vorbei. Heutzutage ist es zu gefährlich. Es gibt die
       [4][Cyber-Kriegsführung]. Viele Länder sind bereits in der Lage, die
       Stromzufuhr auf dem Planeten abzuschalten oder alle Menschen zu töten. Das
       ist die heutige Situation. Aber manche verhalten sich, als ob sie noch im
       Mittelalter leben würden. Wir müssen also in der Realität aufwachen. In den
       Krieg zu ziehen, ist jetzt zu gefährlich.
       
       Es scheint nicht so, dass Russland einlenkt. Sollte der Westen militärisch
       intervenieren? 
       
       Nein. Denn in den Krieg zu ziehen und das Töten zu verstärken, hilft auf
       lange Sicht nicht. Es gibt andere, friedliche Mittel, um dieses Ziel zu
       erreichen.
       
       Wenn Putin nicht aufgibt, sollte ihn jemand aufhalten, um den Krieg zu
       beenden? 
       
       Ich weiß nicht, wer das tun sollte. Ich bin nicht für eine Neutralisierung.
       Ich möchte, dass er einen Prozess bekommt und sich verteidigen kann. Lassen
       Sie ihn reden. Ob er nur Befehle ausführen lassen wollte oder andere
       Ausreden bringt. Aber man sollte ihn nicht auf dem Plüsch sitzen lassen. Es
       ist nicht schlimm, zu sagen, dass man froh ist, wenn er weg ist.
       
       18 Apr 2022
       
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