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       # taz.de -- Porträt der Landeshauptstadt Kiel: Unsichere Seele
       
       > Die Geschichte Kiels hat es in sich. Dass sich daraus nicht wirklich ein
       > gefestigtes Selbstbild entwickelt hat, tut dem Ort durchaus gut.
       
   IMG Bild: Unten am Wasser, wo man halt gut gucken kann in Kiel
       
       Kiel taz | Kiel glitzert. Doch, doch. Ich konnte es lange Zeit selbst nicht
       sehen, hatte wohl auch noch ein, zwei Rechnungen offen – Geburtsstadt eben,
       da kann einem manches nachgehen, und es stimmt schon: So richtig schön als
       Stadt ist Kiel ja nicht –, aber inzwischen sehe ich es: Kiel kann
       tatsächlich glitzern.
       
       Das ist das eine, was über die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt,
       Deutschlands nördlichste Großstadt, vielleicht nicht so bekannt ist. Und
       das andere ist: Unter seiner Oberfläche, gleich hinter diesem Glitzern, hat
       Kiel aber eine unsichere Seele – die mich als Jugendlichen irritiert hat,
       die die Stadt inzwischen allerdings gut bearbeitet, scheint mir.
       
       Am stärken glitzert Kiel natürlich am Wasser. Menschen, die noch nie in
       Kiel gewesen sind, führe ich gern runter an die Kiellinie, das Westufer der
       Förde also. Das ist alles andere als originell, aber hier, zwischen Landtag
       und Seehundbecken, mittendrin in der Stadt und doch zugleich in Kontakt
       mit den weiten Horizonten des Meeres, kann man halt gut gucken und auch ein
       bisschen angeben.
       
       Möwen gibt’s und Fischbrötchen, fünf Fahrradminuten von der Innenstadt
       entfernt. Schiffe ziehen vorbei. Ganz kleine Schiffe: Ruderboote,
       Segelboote. Richtig große Schiffe auch. Die Kieler Förde ist so tief, dass
       die großen Fähren nach Skandinavien und auch diese übergroßen
       Kreuzfahrtschiffe mit dem Kussmund am Bug direkt am Kieler Hauptbahnhof
       anlegen können: praktisch für die Anreise der Passagiere.
       
       Auch wenn man [1][Kreuzfahrtschiffe seltsam und sowieso ökologisch
       bedenklich] findet: Schon toll, wenn man unten an der Kiellinie steht und
       sich vom Eingang der Förde her so [2][eine riesige Schiffssilhouette] aus
       dem Dunst über der Ostsee herausschält.
       
       ## Hafenstadt auf ganz eigene Weise
       
       Nun gut, manchmal regnet es hier im Norden auch, und oft ist es windig.
       Oder böig. Oder auch stürmisch. Kürzlich machte ein mit einem Smartphone
       aufgenommenes Youtube-Video Furore, das einen richtigen Tornado über der
       Förde zeigte. Es gibt aber auch die Wetterlagen, an denen die Stunden hier
       unten am Wasser selbst etwas Plätscherndes annehmen können. Friedlich
       schaut man dann dem Glitzern der feinen Wellen zu.
       
       Kiel ist nämlich auf eine ganz eigene Weise Hafenstadt. Im Hamburger Hafen
       zum Beispiel hört man es immer ackern und malochen, Container ausladen und
       Geld zählen. Der Rostocker Hafen wiederum hat etwas Museales. Der Kieler
       Hafen dagegen liegt oft in erhabener Ruhe.
       
       Er kann sich nicht recht entscheiden, ob er ein überdimensionierter
       Freizeitpark sein will, „Sailing City“ lautet der Slogan Kiels. Oder ob er
       mit seinen Marineverbänden, seinen immer noch bedeutenden Werften und nicht
       zuletzt mit den die Weltmeere befahrenden Forschungsschiffen des Kieler
       Instituts für Meereskunde – deren Anblick in mir immer Fernweh auslöst –
       weiterhin einen auf Weltgeltung machen soll.
       
       ## Historischer Wahnsinn
       
       Das rührt an das, was ich, sicher etwas ungenau, mit unsicherer Seele
       meine. Kiel hat, so kommt es mir vor, kein wirklich gefestigtes Selbstbild.
       Es konnte mir nie diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit einer
       Heimatstadt vermitteln, die einen selbst dann noch tragen kann, wenn man
       sie verlässt. Wenn man hier unten am Wasser steht und sich mit historischem
       Abstand umschaut, kann man auch ein Gefühl dafür entwickeln, warum das so
       ist. Denn bei Licht gesehen ist es purer Wahnsinn, was hier in der
       Vergangenheit passiert ist.
       
       Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war Kiel ein leicht langweiliges, aber
       auch hübsches Universitätsstädtchen im Schatten Dänemarks und der Hanse-
       und Buddenbrooksstadt Lübeck. Stadtansichten aus dieser Zeit zeigen an der
       Küstenlinie viele lauschige Bäume. Der Historiker Christoph Nonn bezeichnet
       Kiel in seiner Geschichte des deutschen Kaiserreichs, in der er auch den
       Admiral Tirpitz porträtiert, als noch 1896 „idyllisch-friedlichen“ Ort; da
       war mein Großvater schon sieben Jahre alt.
       
       Dann ging es aber los. Tirpitz und der Kaiser setzen den Flottenbau durch.
       In der massiv einsetzenden Industrialisierung der Gründerzeit sind auch
       andere deutsche Städte stark gewachsen, aber Kiel ist förmlich explodiert.
       Am bäuerlich-lauschigen Ostufer hämmerten plötzlich die größten Werften der
       Welt. Kriegsschiffe wurden gebaut, die größer waren als die gesamte Kieler
       Altstadt rund um den Alten Markt. Mietskasernen für Zehntausende Arbeiter
       wurden in Windeseile hochgezogen. Der Nord-Ostsee-Kanal wurde gegraben. Für
       die Marine entstanden unterhalb des Kanals ganze Stadtteile aus Backstein.
       
       Eine Kleinstadt, die sich plötzlich auf den Weltkarten wiederfand, das war
       Kiel. Der Kaiser und sein wasservernarrter Bruder Prinz Heinrich
       residierten auf ihren Yachten und im Kieler Schloss, und aus ganz
       Deutschland kamen Menschen nach Kiel, die ihre Heimat verließen, als
       Matrosen oder auch als Werftarbeiter. Auch wenn es heute seltsam klingen
       mag: Kiel war gar nicht „norddeutsch“, Kiel war ein gesamtdeutscher
       Schmelztiegel.
       
       ## Zerstörte Stadt
       
       Doch bevor das alles wirklich zusammenwachsen konnte, ließ sich Kiel
       einspannen in den Kriegen und bei den Nazis. Kiel wurde im Zweiten
       Weltkrieg zusammengebombt – im Zentrum blieben nur drei bis vier Prozent
       der Gebäude verschont. Und obendrauf hat Kiel nach dem Krieg nicht auf
       Rekonstruktion gesetzt, sondern einen geradezu streberhaften und
       wahnsinnsschnellen Kahlschlag-Wiederaufbau im Sinne einer damals
       megamodernen Stadtlandschaft hingelegt.
       
       Was in der Innenstadt noch stand, wurde weggerissen, die erste deutsche
       Fußgängerzone entstand. Gewohnt wurde in Wohnsiedlungen und Vororten
       drumherum. Breite Straßen sollten das alles großzügig verbinden. Am Anteil
       der Straßenfläche zur Gesamtfläche liegt Kiel bundesweit ganz oben.
       
       Diese Abrissmentalität hielt lange an. Mein Geburtshaus, Lerchenstraße 2,
       in der Nähe des Hauptbahnhofs, das die Bombardierungen tatsächlich überlebt
       hatte, wurde um 1980 herum erst besetzt und dann doch abgerissen (eine der
       Rechnungen, die ich noch offen habe), zugunsten der hier Sophienhof
       genannten Mall.
       
       Was immer man von solchen Stadtplanungen hält, ein wirklich selbstbewusstes
       urbanes Lebensgefühl konnte sich so nicht entwickeln. Und auch mit der
       Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit dauerte es. Eine
       eingehende Ausstellung über den Kieler Matrosenaufstand beispielsweise
       habe ich erst 2018 zum hundertsten Jubiläum im Kieler Schifffahrtsmuseum
       gesehen.
       
       Die Mischung aus rasant hochgezogenen Arbeiterquartieren und autogerechter
       Nachkriegsbauweise prägt Kiel immer noch in vielen Ecken. Teilweise hat sie
       inzwischen aber auch Patina angesetzt und kann mancherorts auch tatsächlich
       glitzern, wovon man sich etwa auf der rührigen Facebookgruppe „Kiel – wie
       es früher mal war (1980 und älter)“ gut überzeugen kann.
       
       ## Befriedete Förde
       
       Die Bar im obersten Stockwerk des Hotels Astor zum Beispiel hatte einst ein
       komplett wegklappbares Dach; man nahm seinen Cocktail dann unterm
       Sternenhimmel. Und einer der zugleich seltsamsten und schönsten
       Kronleuchter Deutschlands – ich schwöre – befindet sich in dem sich über
       Kiel-Düsternbrook erhebenden Kasten des Hotels Maritim.
       
       Zugleich sind die Stadtplaner inzwischen ziemlich weit damit gekommen, die
       Förde zu pazifizieren. Es ist eben nicht mehr die Kriegsmarine, die mit der
       Operettenhaftigkeit ihrer Kreuzer und der Bärbeißigkeit ihrer U-Boote hier
       die Hegemonie hat. Gerade gibt es Pläne, die Wasserlinie nach
       skandinavischen Vorbildern weiter zu öffnen, so dass man bald vielleicht
       seine Füße tatsächlich im Wasser baumeln lassen kann.
       
       Und auch das idyllische Kiel kann man an manchen Ecken wiederfinden. Nicht
       wie ehedem an der Universität – die gegenwärtige Massen-Uni ist eine auf
       die Wiese gesetzte Wissensfabrik. Aber etwa um den Kleinen Kiel herum,
       diese seichte Wasserfläche, die die Innenstadt einst zu einer Insel gemacht
       hat, oder auch am ruhigen Schrevenpark, wo man innenstadtnah inzwischen
       wirklich sehr gut wohnen kann.
       
       Und irgendwie, man weiß ja nicht, man soll natürlich vorsichtig sein mit
       stadtbezogenen Identitäts- und Mentalitätszuschreibungen, aber irgendwie
       kommen mir, wenn ich in Kiel bin, die Leute immer so freundlich und
       entspannt vor. Vielleicht, denke ich manchmal, ist es ja ganz gut, in einer
       Stadt zu wohnen, die kein gefestigtes Selbstbild hat. Dann kann man sich
       selbst aussuchen, was einem an ihr gefällt.
       
       8 May 2022
       
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