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       # taz.de -- Ausstellung „Blue Jeans“ in Osnabrück: In die Hose gegangen
       
       > Das Museumsquartier Osnabrück widmet der Blue Jeans eine Ausstellung. Die
       > platzt leider aus allen Nähten: Der kuratorische Zugriff fehlt.
       
   IMG Bild: Die Jeans ist ein Kleidungsstück mit künstlerischem Potenzial
       
       Osnabrück taz | Bildungsaufträge treiben zuweilen seltsame Blüten. „Gegen
       das Muffeln hilft die Blue Jeans an die Luft zu hängen“, so informiert die
       Ausstellung „[1][Blue Jeans. Kult. Kommerz]. Kunst“ des Museumsquartiers
       Osnabrück (MQ4). Echt? Hätte man nicht gedacht. Bei schlechtem Wetter gehe
       auch der Trockner, lernen wir, Dufttuch inklusive. Erkenntnisse, die das
       Leben leichter machen.
       
       Im Jahr 2019 hatte das MQ4 die [2][Karl-May-Ausstellung „Blutsbrüder“]
       gezeigt, in sensibler Balance zwischen Unterhaltung und Lerninhalt, von der
       Winnetou-Silberbüchse bis zum „First Nation“-Genozid. Jetzt ist der nächste
       Nostalgie-Mythos dran. Bietet ja auch prächtigen Erzählstoff, der
       legendenumwobene Denim-Kulturkampf: Revolte gegen das Spießertum, und all
       das. Design- und Wirtschaftsgeschichte lässt sich so erzählen, Polit- und
       Kulturthemen tun sich auf.
       
       „Blue Jeans“ tritt an, den „Werdegang eines kulturgeschichtlichen
       Phänomens“ nachzuzeichnen. Eine Fülle von Botschaften, Fragen und Appellen
       strömt auf uns ein, von Genres, Exponaten und von pädagogischen
       Experimenten. Wer nichts auslassen will, lernt im MQ4 mehrere Gebäudeteile
       kennen. Oft hängt und steht das Gezeigte eng an eng; der Platz reicht
       dennoch nicht. „Blutsbrüder“ hatte Mut zur Lücke. „Blue Jeans“ hat ihn
       nicht.
       
       Von der Ausstellung habe jeder etwas, verspricht MQ4-Direktor [3][Nils-Arne
       Kässens]. Ein Irrtum: Wer so auf alle zielt, wird zwangsläufig
       oberflächlich und erreicht am Ende möglicherweise niemanden so Recht.
       
       Man erfährt was über Nietenhosen-Patentierer Levi Strauss und den
       US-Goldrausch von 1853, liest Zitate von Cardin bis Gaultier, sieht ein
       Ramones-T-Shirt und Robert de Niro in „Taxi Driver“, sieht Werbung von
       Levis bis Wrangler, sieht „Bravo“-Cover, ein DDR-Westpaket, das Foto einer
       Anti-AKW-Demo aus 1980 und, hinter Plexiglas, das Jinglers-Glöckchen. Für
       eine Familie, bedacht auf einen bunten Nachmittag, mag das funktionieren.
       Wer auf Hintergründe hofft, greift schnell zum sehr informationsgesättigten
       Begleitheft.
       
       „Blue Jeans“ zeigt, was eine Ausstellung zeigen muss, die das
       konventionsferne Lebensgefühl spiegeln will, das in der Nachkriegszeit
       begann: Natürlich sind James Dean, Marlon Brando und Elvis Presley zu
       sehen. Es geht um Beuys und Hip Hop, Punk und Warhol. Es geht um Woodstock
       und das Filmmusical „Hair“. Wir sehen Kommunardin Uschi Obermeier oben ohne
       und Performancekünstlerin Valie Export unten ohne, in ihrer
       „Genitalpanik“-Aktionshose.
       
       „Blue Jeans“ versetzt uns jedoch zugleich in die Färberzunft des
       Mittelalters. Wer will, kann eine Nähmaschine anwerfen und eine
       Nietenpresse drücken, kann sich in einer Umkleidekabine Fragen stellen wie
       „Welches Bild von mir möchte ich heute mit meiner Kleidung vermitteln?“,
       kann raten, wie viele Jeans am Eingang auf einem Haufen liegen, kann sich
       einen fast 16-stündigen Film von Wang Bing ansehen, der eine Arbeitsschicht
       chinesischer Näherinnen dokumentiert.
       
       Studierende der Uni Osnabrück füllen [4][Wissenslücken vom Re- bis zum
       Upcycling], vom Ökosiegel bis zur Nano-Bubble-Technologie für den
       Used-Look, vom Pestizid-Einsatz bis zu den Menschenrechtsverletzungen in
       der [5][Textil-Produktion]. Alles richtig. Aber besser und richtiger wäre
       Selbstbeschränkung gewesen: Auch das eindrucksvolle Begleitprogramm, vom
       Trendforschungs-Vortrag bis zum Jeans-Druck-Workshop, macht das nicht wett.
       
       Und wer sich fragt, wie „Blue Jeans“ zum Zentralthema „Frieden“ des MQ4
       passt, das nicht zuletzt des jüdischen Malers Felix Nussbaum gedenkt, der
       1944 in Auschwitz ermordet wurde, braucht viel Abstraktionsvermögen: „Es
       geht ja um unser Verhältnis zur Umwelt“, erklärt Kässens, „um unser
       Verhältnis zu uns selbst, und das ist durchaus ein Aspekt von Frieden. Und
       es geht um Identität, eine Frage, die auch Nussbaum stark beschäftigt hat.“
       
       Einer der stärksten Parts von „Blue Jeans“ ist der Ausblick in die Kunst.
       Er akzentuiert die Schau, und sei es, indem er die Geschichte der Erfindung
       der Leinwandhose durch Levi Strauss in Frage stellt durch ein Gemälde
       gleich am Eingang: Den Namen Maestro de la tela jeans – also der Meister
       des Jeans-Stoffs – hat man einem anonymen lombardischen Genremaler Anfang
       dieses Jahrhunderts verliehen. Mehrere seiner Ende des 17. Jahrhunderts
       entstandenen Bilder zeigen einfache Leute, Bettler, Kinder gehüllt in
       Jacken und Kleider aus Denim, grob und blau.
       
       11 May 2022
       
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