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       # taz.de -- 9. Mai-Erinnerungskultur in Russland: Erinnern braucht Dialog
       
       > Das Feindbild Stalin verdrängt den rassistischen Kern des NS-Kriegs im
       > Osten. Eine Replik auf die Thesen der „Nowaja Gaseta“-Autorin Julia
       > Latynina.
       
   IMG Bild: Stalin-Verehrer bei der Siegesparade in Moskau am 9. Mai
       
       Der Überfall auf die Ukraine hat gezeigt: Der Versuch, Putin mit Handel und
       Diplomatie einzuhegen, ist gescheitert. Der allzu freundliche deutsche
       Blick auf Moskau hatte auch etwas mit einem historischen Schuldbewusstsein
       gegenüber Russland zu tun. Nirgends war der NS-Vernichtungskrieg so grausam
       wie in der Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger Russland ist. Den national
       getönten Erinnerungsinszenierungen von Kiew bis Warschau schaute man im
       Westen indes mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Desinteresse zu.
       
       Müssen wir die Geschichte, die Begriffe neu bewerten? In Teilen, ja. In
       [1][Putins Russland] ist „Antifaschismus“ zum Teil einer orwellschen
       Gehirnwäsche geworden, eines monströsen Lügengebäudes, womit das Regime
       neben nackter Repression das Volk bei der Stange hält. Kritik am
       Hitler-Stalin-Pakt 1939 ist tabuisiert. Krieg heißt jetzt Spezialoperation,
       Hitler war Jude. Und „Nazi“ ist zu einer beliebig verwendbaren Metapher für
       alles Kritische, Demokratieverdächtige geworden.
       
       Diese manipulative Herrschaftsgeschichte erinnert an Fotografien aus der
       Stalinzeit, in denen von in Ungnade Gefallenen nur noch ein Schatten oder
       bei der Retusche vergessene Schuhe an Lenins Seite übrig blieben. Die
       Fake-Geschichte wurde zu einer Retro-Verlängerung der Stalin-Herrschaft.
       Unter Putin dient die roh umgeformte sowjetische Opfer- und
       Siegesgeschichte dazu, einen Angriffskrieg zu rechtfertigen.
       
       Die russische Autorin [2][Julia Latynina] hat kürzlich in der [3][Nowaja
       Gaseta] geschrieben, die der taz beigelegt wurde: „Die tatsächliche
       Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant
       hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch
       die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein
       würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht
       kam.“
       
       Ist das eine originelle These, die wir erwägen sollten, im Bewusstsein,
       dass seit dem 24. Februar gründliche Selbstüberprüfung nötig ist? Unbequem,
       aber bedenkenswert? Keineswegs.
       
       Die Idee, dass Stalin Ende der Zwanziger Jahre einen Weltkrieg geplant
       haben soll, spiegelt eher halbdunkel Stalins Größenwahn wider. Zudem
       siedelt diese These nah an der Propagandalüge, dass Hitler 1941 einen
       Präventivkrieg gegen Stalin geführt habe. Diese von deutschen
       Rechtsextremisten gepflegte Lüge dient einem leicht durchschaubaren Zweck:
       Hitlers Verbrechen werden verkleinert, die Rolle des Menschheitsfeindes
       wird dem Bolschewismus übergestülpt.
       
       So erscheint Hitler, wie ihn die NS-Propaganda zeigte: als Verteidiger
       Europas abendländischer Kultur gegen den asiatischen Despotismus. Moskau
       wolle „Europa bolschewisieren“, schrieb Goebbels 1941 in sein Tagebuch. Dem
       komme man nun zuvor. Es geht hier nicht um ein Detail der
       Weltkriegsgeschichte, sondern um NS-Propaganda.
       
       Die Idee, dass Stalin das Copyright auf politische Verbrechen des 20.
       Jahrhunderts hat, ist nicht neu. Ernst Nolte war 1986 der Ansicht, dass
       nicht der Nationalsozialismus, sondern der Bolschewismus eigentlicher
       Treiber der entgrenzten Gewalt war, die in den Zweiten Weltkrieg führte.
       Der Archipel Gulag sei der Vorgänger von Auschwitz gewesen, der mörderische
       Klassenkampf der Bolschewiki die Blaupause der NS-Rassenmorde. Der
       russische Publizist mit dem Pseudonym Viktor Suvorov vertritt die
       Präventivkriegsthese. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch in einem Verlag,
       der auch Werke wie „Freiwillig in die Waffen-SS“ verlegt.
       
       Diese drei Ideen – Stalin hat den Zweiten Weltkrieg geplant, Hitlers Krieg
       war ein Präventivschlag und die Nazi-Gewalt hat die der Bolschewki nur
       imitiert – ergeben zusammen einen ziemlich hässlichen Strauß. Sie
       verschleiern allesamt den Wesenskern des NS-Krieges im Osten. Die
       „slawischen Untermenschen“, von Polen über Ukrainer bis zu den Russen,
       sollten versklavt und zu Dienstvölkern der „Herrenrasse“ werden, nachdem
       man etliche Millionen hatte verhungern lassen. Diese rassistische Essenz
       des NS-Regimes wollte Nolte in der Historikerdebatte in den Hintergrund
       verbannen, um den Weg zu einer selbstbewussten Nation zu ebnen.
       
       In diesem trüben Fahrwasser segelt Latynina, die [4][eine gewisse Vorliebe
       für schrille Meinungen] hat. Bei ihr erscheint Putin als Fusion von Hitler
       und Stalin. Analytisch trägt diese hyperventilierende Rhetorik nichts zur
       Klärung bei. Die Diktatur in Russland ist brutal – vom Gewaltniveau des
       Stalinschen Massenterrors, dem in den 30er Jahren willkürlich Millionen zum
       Opfer fielen, ist sie meilenweit entfernt.
       
       Also Ende der Debatte? Nicht ganz. Wir müssen selbstkritisch erkennen, dass
       etwas versäumt wurde. Erinnerungspolitisch ist Europa in West und Ost
       gespalten. Das führt der grelle, atemlose Antistalinismus von Latynina vor
       Augen. Im Westen gilt der Holocaust als geschichtspolitischer Maßstab, in
       Osteuropa haben manche Länder eine enge nationale Opfererzählung
       entwickelt, in der Stalin und die Sowjetunion die Hauptfeinde sind. Es ist
       seit 1990 nicht gelungen, diese Diskurse in produktive Spannung zu
       versetzen. Vielmehr herrscht verbissene Opferkonkurrenz.
       
       Die deutsche Erinnerungskultur ist auf manchmal selbstbezügliche Art auf
       den Holocaust zentriert. Schon Fragen nach dem Vergleich von
       Nationalsozialismus und Stalinismus reflexhaft als Relativierungsversuche
       zurückzuweisen ist eine unproduktive Haltung. Der Weg ins Offene führt über
       ein „dialogisches Erinnern“ (Aleida Assmann), in dem die Gewaltgeschichte
       der anderen nicht als zweitrangig abqualifiziert wird und andere
       Opfernarrative mit einem Mindestmaß an Empathie betrachtet werden. Dieses
       dialogische Erinnern ist anstrengend, aber die einzige Möglichkeit,
       abgekapselte Erinnerungskulturen durchzulüften. Das gilt nach dem Überfall
       auf die Ukraine mehr als zuvor.
       
       Aber es gibt Grenzen. Revisionistische Legenden, die NS-Parolen ähneln,
       sprengen den offenen Dialog.
       
       10 May 2022
       
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