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       # taz.de -- Fußball und Alkoholismus: „Jetzt finde ich mich jut“
       
       > Steffen P. ist Fan des 1. FC Union Berlin. Schon in der DDR trank er,
       > wenn seine Mannschaft spielte. Nun ist er trocken. Und hat mehr vom
       > Spiel.
       
   IMG Bild: Bier und Fußball und Bier: Nicht viele helfen mit, um den Kreislauf zu durchbrechen
       
       Die Haare seiner Unterarme stellen sich auf, als Steffen von dieser Zeit
       erzählt. Von den Relegationsspielen im Mai 2019. Als sein Union Berlin den
       [1][Aufstieg in die Bundesliga] tatsächlich schaffte. „Dit waren die
       anstrengendsten sieben Tage meines Lebens.“ Das viele Stehen, Feiern,
       Jubeln, Singen – „stehend K. o.“ sei er gewesen. Und anschließend ohne
       Stimme, versteht sich. Von Anfang bis Ende hat er die Aufstiegstage erlebt.
       Die Spiele selbst, den Empfang am Köpenicker Rathaus, die Schiffsfahrt der
       Mannschaft auf der Spree; zum krönenden Abschluss die Party im Stadion An
       der Alten Försterei.
       
       „In meinen besten Zeiten hätt ick dit Ende der Feier nie erlebt“, sagt
       Steffen. Seine „besten“ Zeiten, die waren einmal. Etwa irgendwann in den
       Achtzigern bei einem DDR-Oberliga-Spiel in Magdeburg, als er nach einem
       Auswärtsspiel irgendwo in Stadionnähe aufwachte – die Erinnerungen: bloß
       Fragmente. Wie eigentlich jedes Wochenende. Vormittags traf er sich mit
       seinen Kumpanen, klaute in einer der Kaufhallen Schnaps und Bier, als er
       noch minderjährig war.
       
       Mit 14 ging es dort los, später in einer Kneipe weiter. „Entweder biste
       irjendwann wegjenickt, bist wachjeworden, war keener mehr da. Warst
       irgendwo inner Walachei, alleene.“ Für eine Sekunde lacht Steffen auf, dann
       stockt er. Denn, das verraten seine Augen, der Alkohol hat mehr als genug
       Ärger in seinem Leben verrichtet. Obwohl sein letzter Schluck länger als 27
       Jahre zurückliegt. „Zum Anfang hat man dit gar nicht so sehen wollen“,
       erzählt Kerstin, seit 35 Jahren mit Steffen verheiratet und nunmehr 40
       Jahre an seiner Seite. Schließlich „hat man selber och ne jemütliche Runde
       mitjemacht. Aber dit wurde mir nachher allet zu viel.“ Nachher, damit meint
       Kerstin die Nachwendezeit. Zu dieser Zeit stand Steffen, wie er selbst
       sagt, „zwischen Baum und Borke. Zwischen Familie, zwischen Frau, zwischen
       Mutter, zwischen den Wessis“.
       
       Ihr Haus, eine Stadtvilla, wurde an die ehemaligen Eigentümer aus dem
       Westen rückübertragen und aufwendig renoviert. Er und seine Familie lebten
       also auf einer Baustelle, bis die Arbeiten fertig waren. Danach mussten sie
       ausziehen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten. „Richtig
       eskaliert mit dem Alkohol“ ist es besonders damals.
       
       Etwa als die beiden endlich ihr erstes Auto hatten und Kerstin auffiel,
       dass Steffen regelmäßig betrunken am Steuer saß – mit den beiden Kindern
       auf der Rückbank. Ebenso, wenn Steffen sie von der Arbeit abholte. „Und
       wenn ick ihn drauf anjesprochen hab: ‚Neein!‘“ Irgendwann, als Steffens
       Alkoholkonsum seinen Höhepunkt fand, drückte Kerstin ihm die Pistole auf
       die Brust: „Entweder wir kriegens hin, oder ick nehm die Kinder und geh.“
       Die Drohung zeigte Wirkung. Gemeinsam ließen sich die beiden von ihrer
       Hausärztin beraten. Ihre Worte: „Jetzt oder nie. Tasche packen und ab!“ Ab
       in den stationären Entzug. Als Steffen versuchte, das aufzuschieben,
       entgegnete die Ärztin: „Doch, du machst das jetzt!“
       
       Inzwischen gehört der Alkohol Steffens Vergangenheit an. Er hat es
       geschafft, auch ohne anschließende Therapie. Denn einen freien
       Therapieplatz gab es nach seinem Entzug nicht. Steffen hätte warten müssen,
       also versuchte er es in Absprache mit seiner Ärztin ohne. Das habe ja auch
       gut funktioniert, sagt Steffen. „Ick bin immer son Typ, der wenn er wat
       beendet, dann hat er et beendet.“ Wie damals mit dem Rauchen, als er sich
       2000 das Kreuzband beim Fußball gerissen hatte und wegen der Operation
       nicht rauchen durfte. „Denn hab ick jesagt: Okay, wenn ich 36 Stunden keene
       jeraucht hab, rauch ick nicht mehr.“ Oder Heiraten. Auch das würde er kein
       zweites Mal machen, falls Kerstin und er sich trennten. „Een mal. Cut.
       Jut.“ Das, sagt Steffen, sei so ein Prinzip von ihm.
       
       ## Die Rückkehr zum Fußball
       
       Was beileibe nicht mehr nur seiner Vergangenheit angehört, ist der Fußball.
       Der ist wieder da. Nach acht Jahren Abwesenheit hat es ihn seit 2002 wieder
       regelmäßig an die Alte Försterei verschlagen. Das erste Spiel damals: gegen
       Energie Cottbus, Zweite Bundesliga. „Die erste Minute da jestanden und
       abjejangen wie so ne Rakete“, sagt Steffen mit leuchtenden Augen. Das
       Adrenalin, es sei sofort wieder da gewesen. Alles beim Alten. Nein, nicht
       alles: „Ick weeß, wo ick war. Dit ist der große Unterschied.“ Ein weiterer:
       Nüchtern kann er seine Aggressionen besser kontrollieren. Bei seiner
       Stadionrückkehr gegen Cottbus hatte ihn ein gegnerischer Fan immer wieder
       provoziert. Nur „so“ – Steffen deutet einen Ellbogenschlag an – hätte er
       machen müssen, „denn kriegt der dit vorn Hals und denn ist Pause. Dann holt
       der Luft.“ Steffen ist sicher: „Mit Alkohol wär et passiert.“
       
       Damals, „zu Ostzeiten“, standen Schlägereien auf Steffens Tagesordnung –
       Pardon, Spieltagesordnung. Alkohol enthemme eben, meint er. „Du hast dich
       jefreut, Stress zu machen“, besonders gemeinsam mit den Kumpels. Oft habe
       er andere provoziert. Mit jedem Tropfen Alkohol sei er stärker geworden.
       „Die Oberarme wurden immer größer“, sagt Steffen und schmunzelt. Größer,
       bis er auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen war, mit blutiger Nase.
       Oder bis ihm einer von der Transportpolizei mit „nem Kurzen“, einem
       Knüppel, einen Schlag in die Nieren verpasste. „Die haben nicht lang
       jefackelt.“
       
       ## Immer seinen Weg jejangen
       
       Danach habe er für zwei Stunden einfach nur auf einer Bank gelegen und nach
       Luft gerungen. Im Stadion ist so etwas nicht passiert. Dort, in diesem
       „Schutzraum“, wie Steffen sagt, musste er die „kleenen Kurzen“ der Trapo
       nicht fürchten. Stattdessen habe man sich, ganz im Gegensatz zur Straße,
       auch politisch äußern können. Lieder mit politischer Botschaft wie
       „Zwischen Minenfeld und Stacheldraht“ wurden an der Alten Försterei auch
       vor der Wende gesungen.
       
       Generell sei er „immer so ein Typ, der seinen Weg jejangen ist“. Obwohl als
       Wehrdienst eigentlich verpflichtend, war Steffen nicht bei der Nationalen
       Volksarmee, weil er „Ärger mit den dazujehörigen Leuten vom
       Wehrkreiskommando“ hatte. Er ist sicher: „Dit wär schiefjelaufen“. Er sei
       nun mal kein Befehlsempfänger gewesen. Vermutlich hätte er länger dienen
       müssen, weil er sicher „irgendwelchen Mist“ gemacht hätte. Das wiederum
       hätte bedeutet: Militärgefängnis Schwedt.
       
       Die Verbindung aus Union und Alkohol ließ ihn, wenn auch nur für Stunden,
       die Welt außerhalb vergessen. „Wenn du ausm Stadion raus warst, war der
       Alltag wieder da.“ Am heutigen Tag wird das Adrenalin wieder durch Steffens
       Körper fließen. In ein paar Stunden ist es so weit, dann steht er wieder
       auf der „Waldseite“ – bei den „Hardcore-Fans“, wie er sagt. Der Gegner:
       Borussia Dortmund, Erste Bundesliga, im Februar noch qua Tabellenstand
       Spitzenspiel.
       
       Statt in einer Kneipe sitzt Steffen mit Kerstin und seinem Kumpel Olli in
       einem Café, keinen Kilometer von der Alten Försterei entfernt. Alle drei
       gehören der Selbsthilfegruppe „Nüchtern betrachtet – mehr vom Spiel“ an, in
       der ausschließlich [2][suchtkranke Union-Fans] oder deren Angehörige
       Mitglied sind. Wenn sich Margitta, die amtierende Gruppenleiterin und
       frühere Suchttherapeutin, irgendwann zurückzieht, soll Steffen ihr
       Nachfolger werden. Er leite bereits jetzt manche Gesprächsrunden, häufig
       auf seine humorvolle Art, sagt Margitta über ihn. „Er nimmt in manchen
       Situationen die Schwere durch seinen Humor raus.“ Das sei für die
       Atmosphäre vorteilhaft und gut, findet sie.
       
       Steffen gefällt an „Nüchtern betrachtet“ besonders, dass die Gruppe Sucht
       und Hobby verbinde. Daraus seien auch private Verbindungen entstanden.
       Insofern sei sie völlig anders als andere Selbsthilfegruppen, wie etwa die
       Anonymen Alkoholiker, bei denen er nach seinem Entzug für eine Sitzung
       dabei war. „Anjeguckt. Häkchen dran. Und jut.“ Ihn störe dort dieses
       ständige Sich-selbst-Bemitleiden. Dass sie, jeder für sich, immer nur über
       dieses eine Problem reden. „Dieset Palaver“ habe er sich nicht anhören
       können.
       
       Das Gefühlsbetonte, das wird deutlich, ist nicht Steffens Domäne. Die
       befindet sich ganz gewiss auf der Waldseite der Alten Försterei. Dort, wo
       er, trockener Alkoholiker, nicht nur manchmal eine [3][Bierdusche]
       abbekommt, sondern jedes Mal. „Ich mach immer so …“, sagt Steffen todernst
       und tut schmatzend so, als würde er das Bier von seinem Trikot ablecken.
       „Nee, warn Scherz.“ Zehn Sekunden später hält sich Steffen noch immer den
       Bauch vor Lachen. Sein Lachen reißt auch die beiden anderen mit. Sekunden,
       nachdem Steffen seine Latte macchiato serviert bekommt, sagt er: „Jetzt
       finde ich mich jut.“ Olli fängt neben ihm wieder laut an zu lachen. Er ist
       sich sicher, Steffen meint es ironisch. Auch Steffen zieht die Mundwinkel
       hoch und schmunzelt. Seine Augen lachen aber nicht, sie meinen es ernst. Es
       gab Zeiten, in denen es ganz anders war.
       
       7 May 2022
       
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