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       # taz.de -- Autor Guillermo Arriaga über Mexiko: „Indigene wurden unterdrückt“
       
       > Im neuen Roman des Mexikaners Guillermo Arriaga spielt exzessive Gewalt
       > eine entscheidende Rolle. Warum? Ein Gespräch darüber – und über
       > indigenes Leben.
       
   IMG Bild: „Ohne Kultur verliert sich eine Nation“: der mexikanische Autor Guillermo Arriaga
       
       Im Roman „Das Feuer retten“ des mexikanischen Autors Guillermo Arriaga
       haben drei von vier Hauptfiguren einen indigenen Hintergrund. Ein Vater,
       der sich für die Emanzipation der Indios engagiert, alles für ihre Sache
       opfert, dabei seine eigene Familie tyrannisiert. Die Söhne sollen hart und
       ausdauernd und gebildet werden, im Hinblick auf die Befreiung der Menschen
       mit indigener Herkunft. Der eine Sohn passt sich an, der andere wird
       kriminell. Die Mutter, weißer Herkunft, wird zum Zeichen ihres Ursprungs
       von ihrem Mann gedemütigt. Unser Autor traf Arriaga in Berlin. 
       
       ## taz: Herr Arriaga, erzählen Sie uns in Ihrem Roman eine typisch
       mexikanische Geschichte?
       
       Guillermo Arriaga: Sie betrifft nicht nur Mexiko. Auch in anderen Ländern
       ist die indigene Bevölkerung von Rassismus betroffen. Etwa in Australien,
       wo ich mich als ein „Beauftragter“ der Aborigines engagiere. Die Situation
       der Aborigines ist teils vergleichbar mit der von Indigenen in Mexiko. Sie
       werden marginalisiert, isoliert, haben oft keine Möglichkeiten, sich zu
       entfalten. Ähnliche Geschichten haben mir auch indigene Aktivisten in
       Neuseeland oder den First Nations in den USA erzählt. Aber sicher, in
       erster Linie ist mein Roman eine Kritik am zeitgenössischen Mexiko.
       
       ## Sie erwähnen dort als eine Gegenfigur zu dem indigenen Familientyrannen
       das historische Beispiel des Benito Juárez. Der wurde im 19. Jahrhundert
       Präsident Mexikos. Wie sehen Sie ihn?
       
       Wir hatten Mestizen als Präsidenten, aber Benito Juárez war der einzige
       rein indigene Präsident. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beherrschten die
       Konservativen zusammen mit der Kirche das Land. Die Indigenen wurden von
       der katholischen Kirche unter allen Besitzlosen und Entrechteten am meisten
       unterdrückt, gefoltert, massakriert. Die liberalen unter den weißen Eliten
       beförderten die Karriere von Juárez. Er war die Waffe gegen die
       Konservativen. Für mich ist und bleibt er der wichtigste Präsident Mexikos.
       Er brachte das Land voran. Brach mit der katholischen Kirche, die ihre
       Ländereien und Güter verlor. Er entwickelte den Begriff der Mexikanität.
       Für meinen Roman war Juárez ein wichtiges Vorbild. Er sprach mehrere
       indigene Sprachen wie Nahuatl, Zapotekisch. Und er sprach Deutsch,
       Französisch, Latein, Spanisch. Er war sehr gebildet. Er war ein Modell für
       meine literarische Vaterfigur namens Huiztlic.
       
       ## Dieser Vater tyrannisiert seine Familie, wird selbst rassistisch
       gegenüber seiner weißen Frau. Erniedrigt sie, weil sie weiß ist.
       
       Ich wollte die Widersprüche des Landes und seiner Bewohner aufzeigen. Und
       nicht schwarz-weiß malen. Nach außen ist dieser Typ namens Huiztlic stolz
       auf seine Herkunft und seine Geschichte, jemand den man unterstützen
       möchte. Aber in der Familie ist er ein Schläger, der seine Söhne und seine
       Frau misshandelt. Diese Zwiespältigkeit spiegelt auf ironische Weise
       Mexiko. Die Ironie besteht darin, dass Huiztlic eine weiße Frau heiratet,
       aber darauf hofft, dass seine Kinder Indigene werden. Er kann es nicht
       ertragen, dass einer der Söhne weiß ist.
       
       ## Ist das umgekehrter Rassismus?
       
       Man muss rassistische Vorurteile von der Praxis eines harten und
       institutionellen Rassismus unterscheiden. Das würde ich nicht
       gleichbedeutend sehen. Dieser Vater hat rassistische Vorurteile gegenüber
       seiner Frau und dem einen Sohn.
       
       ## Nach Benito Juárez ist die mexikanisch-US-amerikanische Grenzstadt
       Ciudad Juárez benannt. Auch Ihr Roman spielt in einer Grenzstadt zu den
       USA, wo Sie Revierkämpfe zwischen „Narcos“, den Drogenbanden, ansiedeln.
       Warum dort?
       
       Wer einen solchen Grenzort kontrolliert, kontrolliert den Ort, an dem die
       Drogen ihren Weg in die USA finden. Die meisten der bestialischen
       Gewalttaten Mexikos finden in diesen Grenzstädten statt.
       
       ## Und die Waffen kommen aus den USA.
       
       Die Waffen, die Munition, das Geld. Wenn Mexiko ein Land im (Bürger-)Krieg
       ist, dann ist das auch einer der USA. Ich weiß nicht, warum Mexiko nicht
       die Drogen legalisiert. Es liegt doch auf der Hand; das ist ein Problem der
       reichen Konsumenten, der USA. Nur etwa drei Prozent der Drogen werden in
       Mexiko konsumiert. Die USA sagen, die Gewalt sei das Problem Mexikos, aber
       mit den Einnahmen aus den USA finanzieren die Kartelle die Drogenökonomie,
       die Waffen und die Kultur der Gewalt. Ein komplexes Thema, mein Roman
       versucht, es zu spiegeln. Die Narcos kaufen den Großteil der Waffen in den
       USA.
       
       ## Auf legale Weise?
       
       Viele Waffen sind in den USA legal. Dort gibt es eine Veranstaltung, die
       nennt sich „Gunshow“. Da kann man alle möglichen Waffentypen kaufen. Da
       sagt ein Mexikaner, ich brauche 50 Maschinengewehre für ein
       Weihnachtsgeschenk. Mit diesen Waffen werden in Mexiko Jugendliche getötet.
       
       ## Ihre vierte Hauptfigur ist eine weiße, bürgerliche Tänzerin und
       Choreografin. Aus Liebe zu einem indigenen Mann verrät sie ihre Klasse.
       
       In Mexiko treffen Angehörige verschiedener Herkünfte und Klassen eher
       selten aufeinander. Die weißen Eliten leben völlig abgekapselt in eigenen
       Welten. Was sich mit der Globalisierung noch verschärft hat.
       
       ## Einer der reichsten Männer der Welt ist der Mexikaner Carlos Slim, mit
       80 Milliarden Dollar.
       
       Zwölf der reichsten Männer weltweit sollen Mexikaner sein. 55 Prozent der
       Mexikaner leben offiziell in extremer Armut. Auch darum geht es in meinem
       Buch, so beginnt es mit: „Dieses Land ist gespalten, in die, die Angst
       haben, und die, die wütend sind.“
       
       ## Was ist entscheidender: Klasse oder „Rasse“?
       
       Ich glaube, die biologische Herkunft determiniert die Klasse. Es gibt viel
       Rassismus in Mexiko, Indigene haben viel weniger Chancen als andere: Sie
       können zum Militär oder Grundschullehrer werden.
       
       ## Woher kommen die ausufernden Gewaltexzesse in Mexiko?
       
       Die Korruption ist, wie in ganz Lateinamerika, eine Ursache. Das andere
       Hauptproblem ist der Neoliberalismus. In Mexiko sind nach der Landreform
       von 1917, dem „ejido“, große Ländereien neu verteilt worden. Es gibt
       deshalb viele Bauern. Aber viele sind verarmt und können die aktuell nötige
       Technologie nicht einsetzen. Ihre Agrarprodukte können mit den
       ausländischen nicht konkurrieren. Viele wandern deshalb aus. Dazu kommt die
       Drogenökonomie. Die Amerikaner haben die Routen von Kolumbien nach Florida
       blockiert. Jetzt läuft das meiste über den Landweg Mexiko.
       
       ## Die Gewaltdarstellung spielt in Ihrem Roman eine entscheidende Rolle.
       Ist die Drastik notwendig?
       
       Ich will weder aufregen noch abschrecken. William Faulkner, eines meiner
       Vorbilder, schrieb viel über Gewalt, auch über Missbrauch und Inzest. Sein
       Bruder sagte nur: Da passiert aber nicht viel. Ich bin in einem Viertel in
       Mexiko-Stadt aufgewachsen, das den Grenzstädten ähnelt. In Mexiko spielt
       sich das Leben auf der Straße ab. Daher kommt die Darstellung.
       
       ## Das war in der Kindheit.
       
       Ja, [1][aber ich kenne auch den ländlichen Norden Mexikos sehr gut.] Dort
       gehe ich auch mit Pfeil und Bogen auf die Jagd. Ich schlafe bei Bauern,
       esse mit ihnen, auch mit den Soldaten. Ich kenne auch Narcos.
       
       ## Einmal sagten Sie, dass die Medien für die Narcos Werbung machen, wenn
       sie über deren immer bestialischer werdende Verbrechen berichten. Machen
       Sie nicht auch Werbung für die Narcos, wenn Sie deren Verbrechen bis in das
       kleinste Detail schildern?
       
       Es gibt etliche Drogenfilme aus Hollywood, die in meinen Augen diese Gewalt
       ausstellen und verherrlichen. Ich glaube, ich mache das nicht. Ich finde
       auch, es wird auffallend wenig über die nordamerikanischen Drogenhändler
       gesprochen. Ja, es gibt Zonen, die von den Narcos kontrolliert werden. Aber
       nicht ganz Mexiko steht in Flammen. Die Jugendlichen in den USA und in
       Europa genießen die Drogen, wir Mexikaner lassen dabei unser Leben. Jedes
       Kilo Kokain kostet zehn Liter Blut. Mexiko zahlt für einen Krieg, der nicht
       seiner ist.
       
       ## Ihr Roman nimmt eine überraschende, positive Wende. Ist das nicht ein
       bisschen naiv, auch in der aktuellen Situation von Mexiko?
       
       Nein, im Gegenteil. [2][Ich glaube an die Kraft der Fiktion.] Ohne Kultur
       gibt sich ein Land auf. Was passierte in Sarajevo? Zuerst wurden die
       Bibliotheken, die Kirchen, die Universitäten, – die Zentren des Wissens
       zerstört. Jeden Tag spielte dagegen ein Orchester in einem Park. Ohne
       Kultur verliert sich eine Nation. Das ist nicht naiv. Eine Gesellschaft
       ohne Liebe stirbt ebenfalls.
       
       ## Der Titel Ihres Romans lautet „Das Feuer retten“?
       
       Die Kultur ist für mich Teil dieses Feuers. Die Kultur, die dir ermöglicht,
       dich zu fragen, wer du bist. Damit du dein Leben in die eigenen Hände
       nehmen kannst. Ein Buch zu lesen, einen Film oder ein Bild anzuschauen,
       hilft dir, dich selbst zu erkennen.
       
       9 May 2022
       
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