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       # taz.de -- Malerin und Musikerin Norma Tanega: Aus dem Leben einer Bohemienne
       
       > Norma Tanega ist die große Unbekannte des US-Folk. Ein Album mit ihren
       > schönsten Songs und ein Buch bieten nun Gelegenheit zur
       > (Wieder-)Entdeckung.
       
   IMG Bild: Norma Tanega auf dem Cover von „I’m the Sky. Studio and Demo Recordings, 1964–1971
       
       Der britische Kulturkritiker Jon Savage behauptet, es sei das Jahr 1966
       gewesen, in dem die Sixties explodierten. Es war in jener Zeit tatsächlich
       viel los beidseits des Atlantiks. John Lennon verkündete, die Beatles seien
       „populärer als Jesus“. Die Mods hatten England und London mit ihrem
       affirmativen Lebensstil fest im Griff.
       
       Und in den USA, in Andy Warhols New Yorker „Factory“ sang Lou Reed von der
       Venus im Pelz. Nebenan in New York, in der Lower East Side Manhattans,
       hatte eine junge Musikerin zeitgleich andere Themen. Ihre Katze zum
       Beispiel, die sie wie einen Hund Gassi führte.
       
       Der psychedelische Folksong „Walkin’ My Cat Named Dog“ von Norma Tanega
       klang selbst für Sixites-Verhältnisse ziemlich spinnert und surreal. Dabei
       musste man nach dem verborgenen Sinn nicht lange suchen. Tanega, geboren
       1939 im kalifornischen Vallejo, besaß eine Katze namens Dog. Mit der sie im
       Greenwich Village herumspazierte.
       
       ## Großer Erfolg in den US-Charts
       
       „Walkin’ My Cat Named Dog“ war ein großer Erfolg in den Charts von
       Nordamerika. Mit dem gleichnamigen Album tourte Tanega durch die USA,
       spielte mit Bob Dylan, komponierte Songs für Dusty Springfield. Heute teilt
       sie das Schicksal vieler Zeitgenossinnen: Sie wurde vergessen.
       
       Ähnlich erging es der früh verstorbenen Musikerin Judee Sill und der
       Schwarzen Blues- und Folkpionierin Elizabeth Cotten. Oder der deutschen
       Sibylle Baier, deren Debütaufnahmen wurden erst veröffentlicht, als ihr
       Sohn sie 30 Jahre später auf dem Dachboden fand. Sie alle waren virtuose
       Folksängerinnen, deren Werk nicht über den zwanzigsten
       Neil-Young-Jubiläumsschuber unsichtbar bleiben sollte.
       
       Vor zweieinhalb Jahren starb Norma Tanega. Doch nun erscheint mit der
       Compilation „I’m the Sky: Studio and Demo Recordings, 1964–1971“ eine Art
       spätes Best-of der schönen dunklen Folkstimme, die kaum jemand heute kennt.
       Der parallel in den USA veröffentlichte Bild- und Essayband „Try to Tell a
       Fish About Water“ (Thames & Hudson, New York 2022) widmet sich vor allem
       Tanegas Werk als Malerin.
       
       ## Malerin und Musikerin
       
       Obwohl sie Multiinstrumentalistin war, die von Gitarre bis karibischer
       Steel Pan so ziemlich alles spielen konnte, war die Bildende Kunst für sie
       das zentrale Thema: „Ich bin Malerin – keine Popsängerin“, so wird sie in
       einem Zeitungsausriss in dem Erinnerungsband zitiert.
       
       Ergänzend zu den vielen Fotos, Gemälden und Comics aus Tanegas Nachlass
       kommen in einer Art „oral history“ ihres Lebens Wegbegleiter der Künstlerin
       zu Wort: Freunde, Kollaborationspartnerinnen und auch ihre ehemalige
       Partnerin Corinna Müller, die Tanega in ihren letzten Lebensjahren
       kennenlernte.
       
       Die Künstlerin Diane Divelbess beschreibt Tanega, Tochter einer
       Panamaerin und eines US-Navy-Musikers von den Philippinen, in ihrer
       Einleitung als aufrichtig, loyal und „eigensinnig ehrlich“. Dazu sei sie
       eine großzügige Gastgeberin und geborene Entertainerin, die oft grummelig
       guckte, aber bei Bedarf sofort ihr Dreitausend-Watt-Lächeln anknipsen
       konnte.
       
       Nach ihrem ersten Hit 1966 ging Tanega nach England, wo sie Dusty
       Springfield traf. Die beiden wurden ein Paar, und Tanega blieb. Ihr zweites
       und letztes Soloalbum „I Don’t Think It Will Hurt If You Smile“, das sie
       1971 in London aufnahm, wurde – trotz wundervoller Songs – kein Erfolg.
       
       „The folkies don’t like me and the rock’n’rollies don’t like me“, beschrieb
       sie mal ihr Dilemma. Nach der Trennung von Springfield kehrte Tanega nach
       Kalifornien zurück und richtete sich in einem eher beschaulichen
       Bohème-Leben ein. Sie betrieb eine Galerie in Claremont, gab Malerei- und
       Musikunterricht, war eine Lokalberühmtheit.
       
       ## Queere Künstlerin
       
       Hatte sie, eine queere Künstlerin of color, es einfach schwerer im
       Folkgeschäft als die weiße Konkurrenz? Hasste sie den kommerziellen
       Musikbetrieb – oder beides? Tanega selbst klang nicht bitter. Sie nahm bis
       ins hohe Alter Musik in kleinen Projekten auf und kommentierte ihre Rolle
       im Biz selten.
       
       Allein im Song „If I Only Had a Name Like Norma Tanega“ denkt sie darüber
       nach, wie schön es doch wäre, einen Namen wie ihren zu haben. Er könne
       einen weit bringen, weil er so sanft und lyrisch klinge – wenn auch nicht
       „kaukasisch“. Heute hört sich der Song wie ein dezent ironischer Kommentar
       dazu an, dass die Retrowellen über ihr schmales, aber außergewöhnliche Werk
       bislang hinwegrollten.
       
       Dabei hätte ihr wunderlicher Folk mit Wall-of-Sound-Elementen und ihre
       leisen, humorvollen Songtexte sie locker dafür qualifiziert, zur Heldin der
       „New Weird America“-Bewegung der frühen Nullerjahre zu werden. Im Song
       „Stranger“ klingt Tanegas vervielfachte Stimme sogar so geschlechtlich
       ambivalent, als höre man eine frühe Aufnahme der US-Band Grizzly Bear
       [1][oder der „Freak Folk“-Lichtgestalt Devendra Banhart].
       
       ## Coverversionen
       
       Hier und da wurde Tanega auch gecovert, [2][von den Tagträumern Yo La
       Tengo] oder der kalifornischen Garagepunk-Band Thee Oh Sees zum Beispiel.
       Wie so oft in der Popgeschichte war es allerdings ein Film, der ein
       größeres Publikum an ein vergessenes Genie erinnerte.
       
       [3][Der neuseeländische Regisseur Taika Waititi] wählte für seine Komödie
       „What We Do in the Shadows“ von 2014, einer Mockumentary über eine
       Vampir-WG in Wellington, Tanegas Song „You’re Dead“ als Titellied. „Don’t
       sing if you want to live long / They have no use for your song / You’re
       dead, you’re dead, you’re dead / You’re dead and outta this world“, singt
       sie nach einem Eröffnungsriff, das man nicht mehr vergisst. Noch so ein
       Stück, das mit dem Wissen um ihren Underdog-Status düsterer klingt, als es
       möglicherweise gemeint war.
       
       Es ist erstaunlich, wie viel Wehmut, wie viel Wissen um Dunkelheit und
       Einsamkeit in Tanegas großäugigen, manchmal fast schlafliedhaften Songs
       haust. Liedern wie „Love Is Such a Happy Thing“ wohnt eine Magie inne, die
       mit „unschuldig“ fast, aber nicht ganz exakt beschrieben wäre – weil ihre
       Interpretin sehr hörbar zu viel vom Leben gesehen hat, um noch ungeschützt
       kindlich sein zu können. Aus Tanegas freundlicher Musik spricht keine
       Naivität, sondern die Sehnsucht nach einem unzynischen Leben.
       
       ## Das 3000-Watt-Lächeln
       
       Norma Tanega, die Frau mit dem Dreitausend-Watt-Lächeln, von der Freunde
       sagen, sie habe ihre Traurigkeitsphasen stets angekündigt, um sich dann ein
       paar Tage mit einer Flasche Johnnie Walker zurückzuziehen. Im Alter von 80
       Jahren starb sie am 29. Dezember 2019, wenige Monate nach ihrer letzten
       Kunstausstellung.
       
       Einige Jahre nach ihren Spaziergängen mit der Katze „Dog“, hatte sie dann
       übrigens doch noch einen Hund. Zumindest schrieb sie über einen. „Maggie My
       Dog“ handelt von einer Hündin, die tagsüber Vögel und nachts Phantome jagt.
       Die springt und fliegt, aber niemals unbeschwert läuft, und ihre Halterin
       sowohl nüchtern als auch betrunken liebt.
       
       14 May 2022
       
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