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       # taz.de -- Wirtschaftssanktionen gegen Russland: Kartoffeln statt Autoteile
       
       > Die EU hat das sechste Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg
       > gebracht. Die Wirtschaftsstrafen zeigen erste Folgen.
       
   IMG Bild: Awtotor-Werk in Kaliningrad in Vorkriegszeiten
       
       Moskau taz | Bei Awtotor in Kaliningrad setzten die Arbeiter*innen noch
       bis in den März hinein BMWs zusammen, Kias, Hyundais. Bis zu 250.000
       Fahrzeuge seien jährlich vom Band gerollt, berichtet die Homepage des
       Unternehmens in der Stadt, die die Jugend dort nur noch Kö nennt. Als
       Anlehnung ans einstige Königsberg.
       
       30.000 Menschen arbeiten bei Awtotor. Nun sind alle 30.000 zu Hause.
       Betriebsferien. Zunächst bis Ende Mai, heißt es offiziell. Viele in der
       Stadt sind nervös, weil aus den Ferien oder der möglichen Kurzarbeit danach
       schnell Arbeitslosigkeit werden könnte. Wie auch in Kaluga, 160 Kilometer
       von Moskau entfernt, wo VW seine Autos für den russischen Markt produzierte
       und es nicht mehr tut, oder in Toljatti an der Wolga, aus dem sich Renault
       zurückgezogen und die Zusammenarbeit mit Lada beendet hat.
       
       Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, den der Kreml offiziell
       „militärische Spezialoperation“ nennt, stellten [1][viele ausländische
       Firmen ihre Tätigkeit in Russland ein], fast 1.000 internationale
       Unternehmen haben sich vom russischen Markt abgewendet, manche
       „vorübergehend“, andere „für immer“. Die Lieferketten stimmen nicht mehr,
       die Logistik stockt, Ersatzteile fehlen.
       
       So auch bei Awtotor in Kaliningrad. „Eine schwierige wirtschaftliche Lage“,
       nennt das die Unternehmensführung und bietet sogleich eine Lösung dagegen
       an: Awtotor stellt seinen Mitarbeiter*innen Parzellen für Gemüsegärten
       zur Verfügung. Jeder, der wolle, könne 1.000 Quadratmeter Fläche in zwei
       Dörfern, etwa 20 Kilometer von Kaliningrad entfernt, beantragen.
       „Hochwertige Saatkartoffeln aus vaterländischer Produktion
       miteinbegriffen“, heißt es in einer Mitteilung des Unternehmens. Kartoffeln
       statt Autoteile.
       
       ## Leugnen klappt schlecht
       
       Es ist eine russische Antwort auf die massiven Wirtschaftsstrafen, die dem
       Angriff Moskaus auf die Ukraine folgten. Viele im Land tun bis heute so,
       als beträfen sie sie nicht. Das Leugnen klappt nicht schlecht. Der Rubel
       hat sich stabilisiert, die Ladenregale wirken voll, die Restaurants
       scheinen gut besucht, die Apotheken haben ihre Auslagen wieder so gefüllt,
       dass Leerstellen kaum auffallen. Baumärkte von OBI haben wieder geöffnet;
       mag die Kette nun unter einem russischen Betreiber laufen. Und selbst den
       [2][endgültigen Abschied von McDonald’s vom russischen Markt] verkauft die
       Moskauer Stadtregierung als „Rückkehr unter einer neuen Marke schon im
       Juni“. Auch den Weggang von Renault sieht sie als etwas gut zu
       Verschmerzendes an. Kommt eben der Moskwitsch zurück, der sowjetische
       Volksbeglückungswagen.
       
       2006 ging der russische Automobilhersteller aus Moskau zwar pleite, nun
       aber soll die Automarke in den Renault-Werken bei Moskau wiederbelebt
       werden. Die Stadtverwaltung besitzt alle russischen Renault-Aktien, die
       Anteile, die das Unternehmen an Awtowaz hielt, gehen derweil ans Staatliche
       Institut zur Entwicklung von Automobilen, Traktoren und Motoren (Nami). Der
       technologische Partner des Moskwitsch soll der Lkw-Hersteller Kamaz sein,
       dem durch die Sanktionen Bauteile für Getriebe und Einspritzpumpen wie auch
       verschiedene Chips für die Produktion fehlen. Auch Elektro-Moskwitschs
       sollen in Zukunft möglich sein, sagte der Moskauer Bürgermeister Sergei
       Sobjanin vollmundig. Wie die Partnerschaft funktionieren soll und auf
       welcher Grundlage die Moskwitschs vom Band laufen sollen, sagte Sobjanin
       nicht.
       
       ## Papier für Kassenbons fehlt
       
       Rückschritte als Fortschritte zu verkaufen – darin läuft die russische
       Regierung derzeit in Hochform auf. Ladas sollen mit alter Technik
       weiterproduziert werden, ohne das Antiblockiersystem ABS und Servolenkung.
       Die Hälfte der russischen Flugzeugtechnik soll als Ersatzteillager dienen.
       Alte Züge werden schon jetzt auf Strecken eingesetzt, bei denen die
       Regierung noch vor Kurzem für mehr Hochgeschwindigkeitszüge geworben hatte.
       „Wir können alles selbst“, sagen russische Beamt*innen und pochen auf
       den sogenannten „Importosameschtschenije“, die Importsubstitution, die
       ausländische Importe durch heimische Produktion ersetzen soll.
       
       Nur: Plötzlich stellt die heimische Wirtschaft fest, dass ihr Papier für
       Kassenbons fehlt. Seitdem sind die Kassenzettel kaum mehr lesbar, so klein
       ist die Schrift, manche Verkäuferinnen schreiben die Bons mittlerweile mit
       der Hand. Die Tetrapack-Beschichtung wird in Russland gar nicht
       hergestellt, nun rätseln die Russ*innen, ob sie ihre Milch demnächst wieder
       in Emaille-Milchkannen holen müssen, wie sie es zu Sowjetzeiten taten.
       Wursthüllen fehlen genauso wie Saatgut.
       
       „Russland ist ein Teil der Weltwirtschaft. Wir sind einfach nicht in der
       Lage, jeglichen Import schnell zu ersetzen“, sagt der Cafébetreiber Alexei
       Poljakow. „Ich muss Schokolade einkaufen, andere müssen anderes einkaufen,
       um gute Geschäfte machen zu können. Jeder, der sagt, wir könnten alles
       selbst, ist ein Trottel.“ Der 32-Jährige betreibt ein Café in Kemerowo, in
       Russlands Steinkohlerevier knapp vier Flugstunden von Moskau weg, und kauft
       seine „Rohstoffe“ – wie Mandelmehl und Schokolade – im Ausland. Jetzt
       stockt das Geschäft. Wie bei vielen anderen im Land. Unternehmen, die in
       den vergangenen Jahrzehnten auf Innovation und Effizienz setzten, finden
       sich auf der Verliererseite, weil sie im Eiltempo aus den internationalen
       Wertschöpfungsketten geworfen werden.
       
       ## Erheblicher Wirtschaftseinbruch
       
       Der russische Staat setzt derweil auf Durchhalteparolen und Milliarden, der
       russische Haushalt ist gut gefüllt. Der Internationale Währungsfonds
       rechnet jedoch [3][mit einem Wirtschaftseinbruch] von 8,5 Prozent in diesem
       Jahr, die Weltbank mit 11,2 Prozent. Der Prozess ist schleichend, weil auch
       nicht klar ist, wie schnell Russland westliches Know-how aus anderen
       Ländern wird ersetzen können. China und Indien, auf die der Kreml so sehr
       setzt, sind vorsichtig, weil sie nicht in den Sog westlicher Sanktionen
       geraten wollen.
       
       „Die Geschwindigkeit der Lawine, die auf Russland zurollt, wächst mit jedem
       Monat. Es findet gerade ein gewaltiger Umbau von allem statt, Ausgang
       offen“, sagt die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch, die als
       Professorin an der Moskauer Staatsuniversität lehrt. Die Unberechenbarkeit
       sei äußerst hoch. Die Zentralbank habe zwar als Feuerwehr gut funktioniert
       und den Kollaps des russischen Finanzsystems und der Währung verhindert.
       Aber sie könne nicht ewig die Feuer löschen.
       
       ## Genaue Daten fehlen
       
       Noch verpflichtet der Staat russische Firmen, 80 Prozent ihrer
       ausländischen Devisenerlöse sofort in Rubel zu wechseln, der
       Zwangsumtausch stützt den Kurs massiv. Die Preise aber sind dadurch
       künstlich, im Rubelkurs spiegeln sich Angebot und Nachfrage nur noch
       eingeschränkt wider. Der reale Kurs ist unbekannt. Diese Maßnahmen müssten
       nach und nach zurückgefahren werden, das Land könne nicht ewig von den
       Reserven leben, sagt die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina, die diese
       Regeln eingeführt hat. Das Land müsse nach neuen Geschäftsmodellen suchen.
       
       Derweil geht die Erdölförderung zurück. Im März sei sie um 9 Prozent
       gefallen, die Erdölverarbeitung um 7 Prozent, schreibt die russische
       Wirtschaftszeitung Kommersant. Auch der Export falle, heißt es in dem
       Bericht. Genaue Daten aber fehlen, weil Russland seit März keine
       Statistiken diesbezüglich mehr veröffentlicht. „Die Inflation, jetzt schon
       bei 18 Prozent, wird steigen, die Jugendarbeitslosigkeit ebenfalls. In den
       Bereichen Metallurgie, Holz, Auto sehen wir schon jetzt eine Minusdynamik“,
       sagt Wirtschaftsgeografin Subarewitsch. Ihre Prognose: „Es wird schlimmer.
       Im Herbst lässt sich besser sehen, wie die Sanktionen wirken und was sie
       bewirken.“
       
       In den Awtotor-Gemüsegärten bei Kaliningrad dürfte im Herbst die erste
       Kartoffelernte heranreifen.
       
       17 May 2022
       
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