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       # taz.de -- Geschichte eines russischen Rappers: Heroin und Snickers
       
       > Vom Heroin zum HipHop: Andrej Gelassimows „RussenRap“ erzählt von einer
       > harten Jugend im russischen Süden, ohne sentimentale Verklärung.
       
   IMG Bild: „Durst“ war sein erster großer Romanerfolg, nun kommt „RussenRap“: Andrej Gelassimow
       
       Russland, Mitte der Neunziger, Rostow am Don: Toljas Großmutter Nikolajewna
       wünscht sich, dass aus ihrem Enkel eines Tages etwas Größeres als ein
       Kleinkrimineller wird und lässt ihn Akkordeon üben, während draußen die
       anderen Jungs die ersten krummen Dinger drehen. Sein Vater, ein ehemaliger
       Hauptmann, ist dem Alkohol zugetan. Seine Mutter hat ihr Uni-Diplom im
       Schrank verstaut und verkauft Joghurt auf dem Markt.
       
       Tolja selbst kratzt mit Freunden Putz von den Wänden und verschachtelt ihn
       als Dope. „Wir entscheiden nicht, wie wir unser Leben beginnen“, lässt der
       sibirische Autor und Theaterregisseur Andrej Gelassimow seinen
       Protagonisten in seinem neuen Roman verlauten. „Aber was danach kommt,
       liegt in unserer Hand.“
       
       Unter dem Titel „RussenRap“ ist er Ende vergangenen Jahres in deutscher
       Übersetzung von Thomas Weiler bei Blumenbar im Aufbau Verlag erschienen.
       Sowohl die plakative Titelalliteration als auch das gelungene
       Schwarz-weiß-Cover referieren auf den biografischen Bezug hinter der
       Fiktion. Die Geschichte der Hauptfigur Wassili Wakulenko dürfte russische
       Leser an Basta erinnern, ein 1980 im südrussischen Rostow geborener
       russischer Rap-Gigant.
       
       Gelassimow, dessen erster Roman „Durst“ über einen Tschetschenien-Veteranen
       und die verheerenden körperlichen wie seelischen Folgen des
       Kaukasus-Krieges zu Recht viel Beachtung erfahren hat, versucht sich in
       „RussenRap“ nun am Rostower Straßen- und Jugendslang.
       
       ## Artifizielle Sprache
       
       Er stolpert, wenigstens in der Übersetzung, im Bemühen um sprachliche
       Authentizität stellenweise über die eigenen Füße: Die Sprache wirkt
       artifiziell, die Redeweise der Jugendlichen gestelzt. Hier ist ein Autor am
       Werk, sagt man sich lesend immer wieder, nicht der Rapper selbst.
       
       Dementsprechend verwundert es nicht, dass Gelassimow im folgenden
       Romanverlauf die Lebensgeschichte Bastas und nicht – wie man als Leser*in
       ob des Teaser-Titels vermuten könnte – die Rapgeschichte zentral setzt.
       
       Der jugendliche Tolja unternimmt in Sachen Rap die ersten, vorsichtigen
       Gehversuche und drückt sich zwecks Zugkraft regelmäßig neues Zeug in die
       Venen. Das Heroin macht ihn, wie die meisten seiner Freunde, schnell
       physisch abhängig. Statt Schluss zu machen und den kalten Entzug, „den
       Affen“, wie Gelassimow formuliert, auszuhalten, missachtet er die Maxime,
       die ihm Tahir, sein tschetschenischer Zweitvater, der in Abwesenheit seines
       Soldaten-Vaters dessen Platz eingenommen (und übertroffen) hat, mitgibt.
       
       „Sag mir“, verlangt Tahir bei einem Wiedersehen im Krankenhaus, „was das
       Leckerste überhaupt für dich ist.“ „Na, Snickers“, antwortet ihm Tolja. Wie
       viele Snickers auf einmal er essen könne, will Tahir daraufhin wissen,
       sodass es Spaß und keine Bauchschmerzen mache. Drei gibt Tolja zur Antwort
       und Tahir, der aussieht, „als hätte er einen wissenschaftlichen Beweis
       erbracht“, lacht, zufrieden: „Kein Mensch braucht einen Berg Snickers. Du
       denkst bloß, du bräuchtest ihn. Aber eigentlich krepierst du dran.“
       
       Anschließend zieht er Toljas Ärmel hoch und deutet auf eine Nadelspur.
       
       ## Konsum und Sinnsuche
       
       Wie nebenbei werden im Roman große Themen wie Konsum, Demut,
       Selbstgenügsamkeit und Sinnsuche verhandelt: Tolja und seinen Freunden
       knurrt der Magen, während sie vom weißen Benz der lokalen Gangster-Bosse
       träumen. Mütter werfen die Vorräte, die sie in den Zimmern ihrer süchtigen
       Söhne finden, nicht weg – „die hatten ja was gekostet.“
       
       Spätestens in jenem zweiten Teil des Romans, der Toljas Fortkommen von der
       Spritze und anschließenden Aufenthalt im Kloster samt Empfindungstagebuch
       und psychotherapeutischen Gesprächen beschreibt, fällt man als Leser*in
       vollends in den Roman hinein.
       
       Die Charakterisierung der Nebenfiguren gelingt in ihrer Einfachheit, ohne
       der Eindimensionalität anheimzufallen. Ein von Geldsorgen geplagter
       Klostervater Michail, ein Holz hackender reumütiger Sibirier, und Wadik,
       ein Dorfjunge, der Akkordeonspielen lernen möchte, um der Einöde Pskows in
       Richtung Stadt zu entfliehen.
       
       Da das Geld zum Erwerb des Instruments fehlt, malt Tolja ihm die Draufsicht
       auf ein Stück Sperrholz und bringt ihm „Tjomnaja notsch, London Goodbye“
       und Mendelssohns „Hochzeitsmarsch“ bei. „Der Junge war wirklich fähig. Oder
       hartnäckig. Das lässt sich kaum unterscheiden manchmal.“
       
       ## Schroffe Herzlichkeit
       
       Sämtlichem Klosterpersonal ist eine schroffe Herzlichkeit und die Angst,
       tief in sich reinzuschauen, gemein. Dorthin, „wo es stockfinster ist. Oder,
       umgekehrt, so hell strahlt, dass du blind davon wirst.“ Sie alle haben ihr
       Päckchen zu tragen und jeder vermutet, dass die Last seines Nebenmannes
       weniger beschwerlich ist.
       
       „Dem einen fehlt dies“, erklärt der Sibirier Tolja die Grundmisere des
       Menschen, „dem nächsten das. Ich bin auch nicht einem Einzigen begegnet,
       der gesagt hätte: Ich hab alles, das genügt mir, mehr brauche ich nicht.“
       
       Schnyrik, ein Waise, der ständig droht, bei Vater Michail zu petzen, wird
       vom Arzt Ruhe und hochwertige Kost verordnet, woraufhin er sich
       Überraschungseier wünscht. „Die habe ich in der Kreisstadt gesehen. Da sind
       Überraschungen drin … Mir hat ein kluger Mensch geflüstert, dass die
       Deutschen in jedes tausendste ein goldenes Figürchen reintun … Aus purem
       Gold.“
       
       ## Vorhersehbare Liebesgeschichte
       
       Im Vergleich zu jener éducation sentimentale, die jene Männer mit- und
       untereinander betreiben, plätschert die Liebesgeschichte zwischen Tolja und
       Julia, die gleichzeitig auch eine Geschichte von Herkunft und Klasse
       abgeben soll, abgeschmackt und vorhersehbar dahin.
       
       Letztlich besteht die Errungenschaft des Romans darin, dass er Lebensnähe
       glaubhaft zu machen vermag. Man nimmt dem Autor seine Schöpfung ab, glaubt
       (an das Leben dahinter) der Fiktion und ist geneigt, in Toljas
       Erkenntnisgewinn und gleichzeitigem Verlustgefühl das Paradox vielleicht
       jeder Abhängigkeit zu erahnen, „dass da etwas Wichtiges in dir versauert,
       und dadurch etwas Neues aufkeimen kann“.
       
       17 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marielle Kreienborg
       
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