URI: 
       # taz.de -- berliner szenen: Das alte Leben klopft an
       
       Da komme ich gerade erst aus dem Wildniscamp im Hohen Fläming, Kopf und
       Herz voll vom Gesang des Pirols, vom Geschmack der Knoblauchsrauke und vom
       Rauch des Feuers, über dem unser Essen briet. Ich sammle gerade die Ameisen
       aus dem Schlafsack, als das Handy piept: „Haben noch eine Karte übrig für
       das Róisín-Murphy-Konzert heute Abend. Interesse?“
       
       Ach du Schreck. Columbiahalle. Das alte Leben klopft an. Nein! Nicht so
       direkt nach Corona, nicht nach Wildkräutern, Kompostklo, dem kreisenden
       Rotmilan. Oder – doch? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt und so?
       
       Und schon stehen wir in der Halle, Mensch an Mensch, maskenloses Gesicht an
       maskenlosem Gesicht. Der Bierstand wird belagert von einer madenhaft
       wimmelnden Masse. Ein einziger Typ zapft. Das Thekenpersonal ist offenbar
       in andere Berufe abgewandert. Nach einer Dreiviertelstunde haben wir unser
       Getränk, das Konzert läuft längst. Wir schlagen eine Bresche durch die
       Leiber. Irgendwann sehen wir einen winzigen Ausschnitt der Bühne. Róisín
       Murphy ist cool und bravourös extravagant. Zu jedem Lied trägt sie ein
       anderes crazy Outfit. Es wird geräuchert, Kunstnebel. Der Sound ist
       oberfett. Auf der Empore wird im Rhythmus gesprungen. Wir tun mit. Ich
       denke, so eine Emporenstatik hat nach zwei Jahren Erholungspause vielleicht
       keine Lust mehr, im Gleichtakt ausgelebte Euphorie zu tragen. Schere lieber
       aus dem Gespringe aus.
       
       Murphy im pinken Hosenanzug wird von der Menge getragen, jemand drückt ihr
       eine ukrainische Fahne in die Hand, später führt sie noch eine vulvafarbene
       Baskenmütze, ein lustiges Röckchen und eine Tiffy-Perücke vor.
       
       Und schon stehen wir wieder in der Schlange, um unser Pfand zurückzuholen.
       Dann radele ich den Berg hinunter und höre im Görlitzer Park die
       Nachtigall.
       
       Kirsten Riesselmann
       
       20 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kirsten Riesselmann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA