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       # taz.de -- Erinnerungsprojekt an NS-Zeit: „Juden erkannten die Gestapo“
       
       > Als Neunjähriger floh Franz Michalski mit der Familie nach Berlin.
       > Gemeinsam mit seiner Frau erinnert er an die Verfolgung, aber auch an
       > Hilfe.
       
   IMG Bild: Der neunjährige Franz Michalski mit seinem jüngeren Bruder Peter 1943 – dem Jahr ihrer ersten Flucht
       
       Franz Michalski nickt bestätigend, wenn seine Frau Petra aus seinem Leben
       erzählt. Seitdem er einen Schlaganfall hatte, fällt ihm das Sprechen
       schwer. Seine Frau kann die Geschichte aber ebenso gut erzählen, versichern
       beide. 
       
       taz: Frau und Herr Michalski, die Aktion „Denkmal am Ort“ soll daran
       erinnern, wie Menschen in der NS-Zeit verfolgt, deportiert und ermordet
       wurden – just an den Orten, an denen das geschehen ist. Sie werden am
       Alexanderplatz Ihre Geschichte erzählen. Was haben Sie dort erlebt? 
       
       Petra Michalski: Als Franz neun Jahre alt war, musste die Familie aus
       Breslau fliehen und kam nach Berlin. Der Vater war schon hier, er hatte ein
       möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Um ihn nicht zu belasten, hat sich die
       Mutter Lilli mit Franz und seinem kleinen Bruder am Alexanderplatz
       eingemietet, in einem kleinen Hotel. Der Alexanderplatz war ganz eng
       bebaut, da gab es viele kleine Hotels und Pensionen. Sie blieben immer nur
       kurz; nach ein paar Tagen ist die Mutter mit den Kindern in ein anderes
       Hotel weitergezogen.
       
       Das war nötig, um nicht aufzufallen? 
       
       Ja, weil man immer damit rechnen musste, dass die Gestapo Razzien in den
       Hotels macht.
       
       Wenn Sie jetzt dort hingehen und die Geschichte erneut erzählen: Wie
       präsent sind diese Geschehnisse für Sie noch? 
       
       Petra Michalski (wendet sich an ihren Mann): Ist es immer noch komisch für
       dich? Siehst du heute noch vor dir, wie es damals aussah?
       
       Franz Michalski (nickt bestätigend): Ja, ich weiß noch genau, wie das war,
       ich sehe das immer noch. Und man musste immer gehen, man konnte nirgendwo
       einfach bleiben. (Um die Rastlosigkeit zu zeigen, zieht er die Schultern
       hoch. Es wirkt, als würde er eine Kapuze überziehen; dann läuft er im
       Wohnzimmer der Schöneberger Wohnung, in der das Ehepaar seit Anfang der
       1990er Jahre lebt, hin und her.)
       
       Petra Michalski: Wenn wir in Schulen die Geschichte erzählen, fragen wir
       die Kinder oft: Wo würdet ihr euch am Alexanderplatz verstecken? Ein
       Schüler meinte mal, er würde in einen Gulli steigen. Andere sagen Keller
       oder Toiletten. Aber tatsächlich war es bei euch ja viel der Bahnhof. Da
       sind immer viele Menschen, und da wart ihr auch viel.
       
       Sie haben also viel Zeit draußen verbracht, weil es verdächtig gewesen
       wäre, im Hotel zu bleiben? 
       
       Ja, und das waren kalte Monate: Oktober, November, Dezember. Einmal ist
       Lilli mit ihnen essen gegangen. Sie guckte immer nur zur Tür, immer nur zur
       Tür. Und plötzlich sagte sie: „Franz, guck mich an, guck mich an, ganz
       freundlich, guck mich an, sprich mit mir. Guck nicht zur Tür!“
       
       Sie hatte Angst. 
       
       Sie hat gesehen, dass einer von der Gestapo reingekommen ist. Juden haben
       immer gewusst, wer von der Gestapo ist.
       
       Nach drei Monaten konnten Sie mit der Mutter nach Breslau zurückkehren.
       Aber nicht für lange: Was ist passiert? 
       
       Die Familie wusste von dem Polizisten, der lange seine schützende Hand über
       sie gehalten hat, dass diesmal die Deportation wirklich drohte. Dann kam
       der Tag, für den ich Lilli unheimlich bewundere. Es war Franz’ 10.
       Geburtstag. Sie hat einen Geburtstagskaffeetisch gedeckt, Kuchen gebacken,
       vorher schon die Lebensmittelmarken in der Verwandtschaft zusammengesucht,
       Kaffee und Kakao gekocht und Kerzen angezündet. Und als die Gestapo an der
       Haustür klingelte, hat sie schnell den Kuchen aufgeschnitten, Kaffee
       eingeschenkt – und ist dann durch den Hinterausgang mit den Kindern
       verschwunden und zum Bahnhof gerannt. Wir fragen uns immer: Was ist
       passiert, dass sie die Zeit hatten, zum Bahnhof zu rennen? Ich versuche das
       auch mit den Schülern zusammen rauszukriegen. Da kommen die tollsten Ideen.
       Ich glaube, der gedeckte Kaffeetisch hat sie gerettet.
       
       Diesmal floh die Familie nach Sachsen und Österreich; doch nach Kriegsende
       kamen Sie wieder nach Berlin. 
       
       Die Jahre direkt nach dem Krieg waren für Franz eigentlich viel schlimmer.
       Vorher warst du immer mit der Familie zusammen, das war ein Schutz.
       
       Franz Michalski: Ja.
       
       Warum war es schlimmer? 
       
       Petra Michalski: Franz kam 1945 auf das Canisius-Kolleg. Die Lehrer waren
       Jesuiten, und die fingen an, ihn nicht verbal und deutlich anzugreifen,
       sondern auf eine ganz gemeine Art auszugrenzen. Wenn in der Literatur oder
       in den Gesprächen etwas Jüdisches vorkam, haben sie ihn angeguckt oder
       gezwinkert, sie haben hämisch gelacht, ihm auf die Schulter geklopft und
       gesagt: „Na Michalski, das ist doch genau das Richtige für dich.“
       
       Die Ausgrenzung ging einfach weiter? 
       
       Ja. Sein Vater war ein frommer Mann, er hat das nicht geglaubt. Er meinte,
       das kann nicht sein, das sind Jesuiten. Für Franz wurde das so schlimm,
       dass er überlegt hat, wie er sich das Leben nehmen kann und es sogar
       versucht hat. Die Eltern haben ihn gerade rechtzeitig gefunden.
       
       Frau Michalski, Sie selbst sind auch zusammen mit ihrer Mutter und dem
       Bruder geflohen und Sie werden ihre Geschichte am Sonntag bei „Denkmal am
       Ort“ in Hamburg erzählen. 
       
       Petra Michalski: Gemeinsam mit meinem Bruder Heinz Ulrich werden wir an
       Mátyás Plesch erinnern. Er war der Ziehvater meiner Mutter und für uns wie
       ein Großvater. Und er wurde 1935 von der Gestapo verhaftet, in das „Haus am
       Neuen Wall“ gebracht und gefoltert. Er wurde freigelassen mit dem Befehl,
       Deutschland sofort zu verlassen und ging dann nach Belgien. Dort starb er
       ein Jahr später an den Folgen der Folter.
       
       Wie erinnern Sie selbst die Zeit? 
       
       Meine Eltern blieben in Hamburg, in dem Haus des Großvaters, auch um es zu
       hüten – wir dachten ja immer, der Spuk ist bald vorbei. Meine Mutter war
       aber auch gefährdet, denn meine Urgroßmutter war eine Indigene Guarani, sie
       lebte an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay. Mein Bruder und ich
       haben eine tolle Zeit da verlebt in dem Haus. Wir durften aber niemandem
       erzählen, woher meine Mutter stammte. Sie hatte ihren langen Zopf
       abgeschnitten, der lag immer versteckt irgendwo in einem Koffer. Und nach
       dem Krieg, als wir ihn gesucht haben, war er schon von Motten aufgefressen.
       Meine Mutter war ziemlich kess, sie hat sich durchgeschlagen.
       
       Wie genau? 
       
       Eines Tages sollte mein Bruder in die HJ. Da hat meine Mutter ihn im Keller
       hinter Obstkisten versteckt und gesagt, sie wisse auch nicht, wo er sei.
       Und dann sind wir zu meiner Großmutter väterlicherseits nach Köslin in
       Pommern und haben dort eine Zeit verbracht, um dem zu entgehen. Und einmal
       kam die Gestapo und fragte, warum wir keine Fahne auf dem Dach haben. Es
       sei doch bald Hitlers Geburtstag. Sie sagte, dass die wohl gestohlen worden
       sei. Da haben sie ihr eine neue gebracht. Sie hat die Fahne in die Hand
       genommen und den schönen Stoff befühlt. Dann hat sie den Esstisch
       abgeräumt, die Fahne darauf ausgebreitet und mit der Schere schwarz, rot
       und weiß auseinandergeschnitten. Aus dem Stoff hat sie mir ein
       Rotkäppchenkostüm genäht.
       
       Sind Sie die ganze Zeit in Hamburg geblieben? 
       
       Wir sind irgendwann ganz zu der Großmutter nach Köslin, und auch mein Vater
       hat uns dort besucht. Da habe ich eines Nachts gehört, wie meine Mutter ihn
       fragte: „Die Russen kommen doch immer näher. Was soll ich machen, wenn es
       keine Bahn, kein Schiff und keinen Bus mehr gibt?“ Er sagte: „Du kannst
       keine Gnade erwarten, nach dem, was wir den Russen angetan haben. Tu mir
       einen Gefallen und falle nicht in deren Hände. Abends, wenn die Kinder
       schlafen, drehst du den Gashahn auf. Und morgens ist alles vorbei. Das tut
       auch gar nicht weh.“ Ich habe mich geniert, dass ich das gehört habe und
       nie darüber gesprochen, auch meinem Bruder habe ich nichts gesagt. Aber es
       reichte mir, dass sie gesagt haben: Man schläft ein und es tut nicht weh.
       
       So weit kam es dann glücklicherweise ja nicht. 
       
       Als die Russen näher kamen und die Wehrmacht flüchtete, ist meine Mutter
       mit uns auf den Marktplatz von Köslin gegangen und hat den Soldaten Tabak
       und Zigaretten angeboten, wenn sie uns mitnehmen. Sie hatte einen Koffer
       voll, von userem Vater, der gab uns alles, was er beim Militär bekam. Und
       so kamen wir erstmal bis Stettin. Da haben wir übernachtet, und am nächsten
       Tag hat sie wieder Zigaretten angeboten. So sind wir schließlich
       wohlbehalten nach Hamburg zurückgekommen.
       
       Sie leben seit 30 Jahren zusammen wieder in Schöneberg. Warum hat es Sie
       wieder nach Berlin gezogen? 
       
       Wir haben lange in Süddeutschland gelebt, zum Ruhestand wäre ich auch
       zurück nach Hamburg gegangen, aber Franz wollte wieder nach Berlin. Die
       Zeit hier war wichtig und wohl auch prägend.
       
       Inzwischen erzählen Sie Ihre Geschichte an Schulen. Wie kam es dazu? 
       
       Wir haben in Berlin viel unternommen, wir hatten Jahreskarten von allen
       Museen. Einmal waren wir in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand bei einer
       Veranstaltung mit Evy Goldstein, die als Fünfjährige in Berlin im
       Untergrund gelebt hatte. Und da sagt sie plötzlich: „Uns Judenkindern ging
       es ja nach dem Krieg immer noch ganz schlecht.“ Da sagt Franz, das erste
       Mal in der Öffentlichkeit: „Ach, wem sagen Sie das?“ Weiter nichts. Eine
       Historikerin hat das gehört und ihn darauf angesprochen. Und er hat gesagt:
       „Ja, dazu kann ich mehr erzählen, ich habe auch gerade meine Biografie
       geschrieben.“ So kam es dazu, dass wir an Schulen gegangen sind. Wir wollen
       damit auch an die Stillen Helden erinnern, die der Familie immer wieder
       geholfen haben. Und damit die Kinder ermutigen zu helfen, wenn sie Menschen
       in Not sehen.
       
       6 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uta Schleiermacher
       
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