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       # taz.de -- Schottische Popband Belle and Sebastian: „Aus jedem Tag das Beste machen“
       
       > Die Popband Belle and Sebastian macht sich auf ihrem neuen Album Gedanken
       > übers Alter. Ein Gespräch über alternde Musiker und einen Song für die
       > Ukraine.
       
   IMG Bild: Wollen in sieben Jahren nur noch Jazz machen: die schottische Band Belle and Sebastian
       
       Stuart Murdoch ist Sänger und maßgeblicher Songwriter von Belle and
       Sebastian. Chris Geddes ist Keyboarder, beide sind Gründungsmitglieder der
       Band. Beim Zoom-Interview sitzt Geddes zu Hause auf seinem Bett, Murdoch im
       Freien auf einer Holzbank an einem grünen Hang. 
       
       taz: Ihr neues Album handelt vom Älterwerden. Wie sind denn Ihre
       Erfahrungen mit dem Altern, ganz persönlich und als Band? 
       
       Chris Geddes: Wir haben als Band das Glück, dass es inzwischen völlig okay
       ist, auch in unserem Alter noch Popmusik zu machen. Die Rolling Stones
       kümmert es ja auch nicht, ob sie zu alt sind … also, diesen Kampf hat eine
       Generation vor uns ausgefochten.
       
       (Geddes fängt an zu lachen, denn im anderen Bildfenster des Zoom-Meetings
       sieht man Stuart Murdoch, wie er sich mit zwei älteren Damen unterhält)
       
       Stuart Murdoch: Hallo, alles in Ordnung? Sitze ich auf Ihrem Platz? Ja,
       hier ist es wirklich schön sonnig, wenn die Sonne dann mal rauskommt. Nein,
       nein, Sie stören überhaupt nicht!
       
       Geddes (lacht): Das ist ja wie in „Still Game“! Das ist eine schottische
       Comedyserie, in der es um zwei verwitwete Männer und das Älterwerden geht,
       eine ganz warmherzige Serie über Freundschaft, wir alle in der Band sind
       große Fans davon.
       
       Murdoch (mit der Aufmerksamkeit zurück beim Interview): Verzeihung – wie
       war noch mal die Frage?
       
       Das Älterwerden … 
       
       Murdoch: Ach ja. Viele Rock-’n’-Roll-Helden, die ich liebe, sind längst
       tot. Und es sterben ja nicht nur die Helden aus den 1960ern und die
       Prog-Rocker aus den 1970ern, auch die Punk- und Wave-Helden aus den 1980ern
       verlassen uns schon. Und wenn man jetzt mal rechnet: Unser letztes Album
       haben wir vor sieben Jahren gemacht, sieben weitere Jahre von heute, und
       ich bin 60! Also, man muss aus jedem Tag das Beste machen und aus jedem
       Album.
       
       Komponieren Sie denn automatisch die Musik, die Ihrem Alter angemessen ist,
       oder muss man sich irgendwann ein Konzept überlegen, welche Musik
       altersgemäß ist? 
       
       Murdoch: Bloß keine Konzepte! Ich habe Notizbücher voller Konzepte, die
       kann ich Ihnen gerne mal schicken. Bringt gar nichts! Vielleicht hilft
       einem ein Konzept, wenn man einen Film machen will, aber für Songs … da
       hält man sich besser an sein Gefühl. Klar, manchmal sagt meine Frau dann zu
       mir: Dafür bist du jetzt wirklich zu alt! Und ich sage dann: Mir doch egal.
       
       Erklären Sie uns den Albumtitel, „A Bit of Previous“! 
       
       Murdoch: Das ist eine britische Redensart. Wenn man „a bit of previous“ mit
       jemandem hat, war man mal zusammen oder hat zusammengearbeitet, aber am
       Ende hat man sich überworfen. Darin schwingt eine Spannung mit. Der
       Albumtitel ist ein bisschen ein Witz. Manche Songs handeln von Buddhismus
       und auch von Reinkarnation. Ich fand es lustig, einen Song über
       Reinkarnation zu schreiben und ihn „A Bit of Previous“ zu nennen Dieser
       Song hat es dann allerdings nicht auf das Album geschafft.
       
       Sie haben den Song „If They ’re Shooting at You“ vorab zugunsten der
       Ukraine veröffentlicht, um Geld damit zu sammeln. Ich stelle mir das
       schwierig vor: Etwas Furchtbares passiert, wie der russische Angriff auf
       die Ukraine, und Sie als populäre Band mit einer gewissen Reichweite
       überlegen, was Sie tun können, um zu helfen. Wie haben Sie diese
       Entscheidung getroffen? 
       
       Murdoch: Als Songwriter muss man ein bisschen abwarten, das Geschehen
       verdauen, und vielleicht hat man dann eine kreative Idee dazu. In diesem
       Fall gab es aber schon diesen Song, der ja von Gewalterfahrungen und
       Unterdrückung handelt und davon, Hoffnung im Glauben zu finden. Also haben
       wir beschlossen, ihn mit einer Videocollage von Bildern aus der Ukraine zu
       veröffentlichen – mit Einverständnis der Fotograf*innen natürlich.
       
       Diese Bilder zum Song anzuschauen ist seltsam. Trotz der Thematik des
       Stücks passt das nicht gut zusammen. Andererseits: Welche Musik könnte den
       Bildern überhaupt gerecht werden? So gesehen zeigt dieser Kontrast den
       Widerspruch, mit dem wir leben: Wir schauen uns Bilder vom Krieg an, fühlen
       uns betroffen und leben doch gut, während andere sterben oder fliehen
       müssen. 
       
       Murdoch: Na klar, was wir da machen, kann gar nicht anders wirken als
       rührselig. Wir können nicht nachempfinden, was Leute, die das durchmachen,
       fühlen. Wir wollten aber etwas tun und damit wenigstens Geld fürs Rote
       Kreuz sammeln, und wir waren uns sehr im Klaren darüber, was wir da tun.
       
       Auf Youtube sind da bis jetzt, nach rund acht Wochen (Stand 9. Mai) rund
       3.250 US-Dollar zusammengekommen. Das ist nicht gerade viel. Wie ist Ihr
       Eindruck, kommt das bei Ihren Fans nicht so gut an? Oder haben die
       vielleicht sowieso schon Geld gespendet? 
       
       Murdoch: Darüber haben wir uns auch lange unterhalten. Früher wäre das
       einfacher gewesen, man hätte ein Album gemacht und es verkauft. Jetzt haben
       wir alle Rechte an diesem Song ans Rote Kreuz übertragen, das heißt,
       solange er irgendwo gespielt oder gekauft wird, fließt Geld ans Rote Kreuz,
       auch in fernerer Zukunft. Was wir gemacht haben, ist ein Akt der
       Solidarität mit der Ukraine, der vielleicht auch russische Fans erreicht,
       die an viele Informationen über den Krieg nicht herankommen.
       
       2019 haben Sie den „Boaty Weekender“ organisiert, ein Festival, das auf
       einem Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer stattfand. Während andere Bands
       überlegen, wie sie CO2-neutral touren können, lassen Sie Ihre Fans ans
       Mittelmeer fliegen und auf eine solche Dreckschleuder steigen, um eine gute
       Zeit zu haben. 
       
       Murdoch: Stimmt, für die Umwelt war es nicht das Tollste … Unsere
       ursprüngliche Idee war es, eine Band auf ein Schiff zu holen und eine Tour
       durch britische Häfen zu machen. So gesehen durchaus eine grüne Idee, so
       schlimm wäre das nicht gewesen. Wir haben viel über die Verwirklichung
       dieser Idee nachgedacht, aber es war einfach zu teuer. Viel später hat uns
       dann jemand diese Idee mit dem Boaty Weekender unterbreitet, es schien
       realistisch. Ich glaube, wir waren von unserem eigenen Enthusiasmus
       überwältigt. Soweit ich weiß, hat damals niemand die Frage der
       Umweltverschmutzung aufgebracht. Aber seit der Glasgower Klimakonferenz
       COP-26 2021 ist sich jeder dieser Problematik völlig bewusst. So etwas
       würden wir sicher nicht nochmal machen, wir beschäftigen uns jetzt mit
       nachhaltigeren Ideen.
       
       Wie stehen Sie als Schotten eigentlich zur Idee einer schottischen
       Unabhängigkeit? Ich habe da unterschiedliche Sachen von Ihnen gehört … 
       
       Murdoch: Da hat jeder in der Band eine andere Meinung. Ich selbst habe
       nichts für Nationalismus übrig. Aber ab einem bestimmten Punkt erschien es
       mir eine politische Notwendigkeit, sich vom Vereinigten Königreich zu
       verabschieden. Was in der Ukraine passiert, zeigt doch nur wieder, wie
       absolut lächerlich die Situation ist, die der Brexit gebracht hat. Sie
       wollten kein Europa mehr, was wollten sie dann? China? Wo sind denn unsere
       nächsten Nachbarn, unsere Verbündeten, wenn nicht in Europa? Ich habe das
       nie verstanden.
       
       Geddes: Ich bin für die Unabhängigkeit, aber das hat pragmatische Gründe:
       Ich glaube, ein unabhängiges Schottland wäre eher ein sozialdemokratisch
       geprägtes Land als das Vereinigte Königreich. Die Sache mit dem
       Nationalismus ist schwierig, aber wir haben ja nicht die Wahl zwischen
       schottischem Nationalismus und einer Weltregierung, sondern es geht um die
       Frage schottischer Nationalismus versus britischer Nationalismus. Aber die
       Dinge haben eine ungünstige Entwicklung genommen: Innerhalb der EU von
       Großbritannien unabhängig zu sein wäre nicht so schwer gewesen. Aber wir
       sind nicht mehr in der EU, und sich jetzt unabhängig zu machen dürfte etwas
       schwieriger werden. Wie der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU
       ablief, hat ganz deutlich gemacht: Großbritannien hat kein Interesse an
       fairen Verhandlungen, die für beide Seiten Vorteile bringen könnten.
       
       Wird es wieder sieben Jahre dauern, bis Sie ein Album veröffentlichen? Und
       wenn es jetzt schon ums Altern geht, wovon wird es dann handeln? 
       
       Geddes: Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass wir in unserem Alter schon
       längst Jazz machen würden, ich bin ziemlich enttäuscht.
       
       Murdoch: Vielleicht sollten wir das jetzt verabreden: Spätestens wenn ich
       die 60 erreicht habe, machen wir Jazz.
       
       Geddes: Du singst dann das Great American Songbook, das machen sie alle,
       wenn sie 60 werden.
       
       13 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Schneider
       
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