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       # taz.de -- Streitschrift zu Sozialkonstruktivismus: Foucault und die Folgen?
       
       > Helen Pluckrose und James Lindsay wollen zeigen, warum radikaler
       > Sozialkonstruktivismus der Emanzipation schadet. Dabei tun sich
       > Widersprüche auf.
       
   IMG Bild: An US-Universitäten (hier Harvard) greifen Theorien um sich, die eine illiberale Haltung begünstigen
       
       Anzuzeigen ist ein Buch, das zumal von jenen, die es kritisiert, ernst
       genommen werden sollte. Geht es doch um die These, dass der auf Michel
       Foucault und den Postmodernismus folgende radikale Sozialkonstruktivismus
       gerade nicht zur Befreiung stigmatisierter Individuen führt. Autorin und
       Autor dieser Kritik offenbaren sich schnell als kämpferische,
       individualistische sowie universalistische Geister, die um den Nachweis
       bemüht sind, dass die Emanzipation diskriminierter Gruppen längst vollzogen
       war, als Theorien aufkamen, die gesellschaftliche Diskriminierungen aus
       einem „Macht-Wissen-Komplex“ heraus erklären wollen.
       
       Diese These entfalten Helen Pluckrose und James Lindsay an einer ganzen
       Reihe von Theorien: der postkolonialen Theorie, der Queer-Theorie, der
       Critical-Race-Theorie und der Theorie der Intersektionalität, den Gender
       Studies sowie den Disability und Fat Studies. Steht doch im Zentrum all
       dieser Theorien die radikale Kritik an sogenannten Normalitätsstandards,
       die letztlich dazu geführt hätten, alles, was diesen Standards nicht
       entspricht, abzuwerten und auszugrenzen.
       
       Dabei – und das ist eines der Hauptargumente in diesem Buch – werden sie
       selbst widersprüchlich und der eigenen Absicht schädlich. Pluckrose und
       Lindsay behaupten etwa, dass Queer-Aktivisten, „maßgebliche sexuelle
       Orientierungen und Geschlechtsidentitäten lächerlich“ machen und „Personen,
       die diese anerkennen, als rückständig und tölpelhaft“ darstellen.
       
       Mit Blick auf die postkoloniale Theorie bestreiten die beiden zudem, dass
       es fortschrittlich sei, wissenschaftliche Forschung als Ausdruck von
       Herrschaftsinteressen zu charakterisieren. Besonders deutlich wird das
       Dilemma eines machtkritisch gewendeten Sozialkonstruktivismus beim Blick
       auf Krankheit und „Behinderung“ sowie „Fettleibigkeit“.
       
       Es lässt sich belegen, dass nicht wenige AutorInnen der „Disability
       studies“ bestreiten, Behinderungen würden tatsächlich die Lebensqualität
       beeinträchtigen. Diese Behauptung sei lediglich Ausdruck eines
       machtgestützten Normalitätskonzeptes.
       
       Vor allem aber wollen Pluckrose und Lindsay nachweisen, dass die erwähnten
       machtkritischen Theorien in Wahrheit dazu führen, die Individuen nicht etwa
       zu befreien, sondern sie in ihren negativ bewerteten Rollen
       festzuschreiben. Um das zu zeigen, wenden sie sich der „Critical
       Race“-Theorie zu, die es den Individuen nicht überlässt, mitzuteilen, sie
       seien nur zufällig „schwarz“, sondern sie auffordert, sich einer Identität
       zu versichern, die unabweisbar mit einer derart stigmatisierten Gruppe
       verbunden ist.
       
       Pluckrose und Lindsay werden nicht müde darauf hinzuweisen, in welchem
       Ausmaß diese Theorie auf dem US-amerikanischen Campus um sich gegriffen hat
       und illiberale Haltungen begünstigt.
       
       Nicht zuletzt halten sie den von ihnen kritisierten Theorien vor, sich
       möglicher Falsifikation dogmatisch zu entziehen. Daher – so ein
       abschließendes Credo der beiden: „Wir bestreiten, dass irgendwelche Ideen,
       Ideologien oder politischen Ansichten als autoritative Position
       irgendeiner Identitätsgruppe identifiziert werden können, da solche
       Gruppen aus Individuen mit unterschiedlichen Ideen und einer gemeinsamen
       Menschlichkeit bestehen.“
       
       Es ist in solch einer kurzen Rezension nicht möglich, den Reichtum und
       Scharfsinn dieses Buches angemessen zu würdigen, auch nicht, Widerspruch
       einzulegen oder zumindest Fragen zu stellen. Indes: Wer sich als
       emanzipatorisch versteht, kommt um die Lektüre dieser brillanten
       Streitschrift nicht herum – unabhängig davon, ob am Ende ein
       individualistischer, universalistischer Liberalismus überzeugender wirkt
       als eine machtanalytische und dekonstruktive Theorie gesellschaftlicher
       Identitäten.
       
       12 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
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