URI: 
       # taz.de -- Aufschwung der Gewerkschaften: Kolumbianer organisieren sich
       
       > Vielen Menschen reicht es mit der Ungleichheit. Doch Gewerkschafter leben
       > in dem lateinamerikanischen Land gefährlich.
       
   IMG Bild: Proteste von 2021: In Kolumbien sind viele unzufrieden mit Armut und Ungleichheit
       
       Hamburg taz | Die Eingangstür im neunten Stock des Bürogebäudes an der 35.
       Straße von Bogotá ist gepanzert. Durch eine dicke Glasscheibe wird jeder
       und jede Besucher:in in Augenschein genommen, der Ausweis penibel
       kontrolliert, bevor der elektrische Summer die Tür freigibt, neben der zwei
       Bodyguards sitzen. „Leider nach wie vor nötig“, sagt Francisco Maltés
       Tello, der hinter der Tür gewartet hat, mit einem entschuldigenden
       Schulterzucken.
       
       Der kleine, drahtige Mann koordiniert seit Februar 2021 die Arbeit des
       größten Gewerkschaftsdachverbands Kolumbiens, der CUT (Central Unitaria de
       Trabajadores de Colombia). Lange pendelten die Mitgliederzahlen um die
       600.000, gerade 4 Prozent der 21 Millionen Beschäftigten in Kolumbien waren
       organisiert. Das ist Geschichte. In den vergangenen anderthalb Jahren haben
       die CUT sowie auch die beiden anderen, kleineren Gewerkschaftsdachverbände
       eine bemerkenswerte Frischzellenkur erhalten.
       
       „Fast 400.000 neue Mitglieder, oft junge Menschen, sind eingetreten. Wir
       liegen knapp unter einer Million organisierter Arbeiter:innen und das
       hat gleich mehrere Gründe“, so Maltés Tello. Der 62-Jährige gehört zur
       Gründergeneration der 1986 entstandenen CUT und ist alles andere als
       unbeteiligt an deren Aufschwung. „Wir haben sowohl den nationalen Streik
       von 2019 als auch [1][den vom letzten Jahr] mitorganisiert. Das hat uns
       einen Schub gebracht“, so der Gewerkschafter.
       
       Vor allem der dreimonatige landesweite Streik zwischen April und Juni 2021
       hat die politische Landschaft Kolumbiens merklich verändert. Auslöser war
       eine Steuerreform, die eine massive Senkung der Einkommensgrenze vorsah, ab
       der Steuern zu zahlen sind, und eine Mehrwertsteuererhöhung bei
       Lebensmitteln und Treibstoff. Das trieb Abertausende auf die Straße. Doch
       mit der Rücknahme der Reform und dem Rücktritt des zuständigen Ministers
       Anfang Mai gingen die Proteste weiter.
       
       ## Massive Polizeigewalt bei Streiks
       
       Zu Recht, so CUT-Präsident Maltés Tello. „Kolumbien braucht grundlegende
       Reformen, die diese Regierung systematisch verweigert hat, genauso wie die
       Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC-Guerilla vom November
       2016“, kritisiert der Ökonom und fährt fort. „Hier ist eine Generation auf
       die Straße gegangen, die keine Perspektiven sieht und gegen die Spirale der
       Gewalt, der immer wieder Aktivist:innen für Menschen-, Land- und
       Umweltrechte zum Opfer fallen, protestiert.“
       
       Die unpopuläre rechtskonservative Regierung von Präsident Iván Duque
       reagierte jedoch [2][mit massiver Polizeigewalt auf die Proteste].
       Menschenrechtsorganisationen registrierten 86 Tote, 97 Menschen, die ein
       Auge verloren, und mehr als 300 Verschwundene.
       
       „Das hat zur Politisierung einer jungen Generation beigetragen, die keine
       Perspektiven für sich sieht in einem Land, wo der Reichtum so extrem
       einseitig verteilt ist“, meint Maltés Tello. Die harten Fakten geben ihm
       recht. 42,5 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze,
       müssen von rund zwei US-Dollar am Tag leben. Allein im vergangenen Jahr
       rutschten 3,6 Millionen Einwohner/innen unter anderem pandemiebedingt in
       die Armut ab, 2020 weitere 1,6 Millionen – laut offiziellen Zahlen.
       
       Die Bilanz der auf neoliberale Marktmechanismen setzenden Regierung Duque
       liest sich desaströs. Das hat nicht nur zum Aufschwung der Gewerkschaften
       beigetragen, sondern auch der Parteien, die sich für soziale Reformen
       starkmachen wie den Pacto Histórico. Dessen Kandidat Gustavo Petro liegt in
       den Umfragen für die am 29. Mai anstehenden Präsidentschaftswahlen rund 16
       Prozentpunkte [3][vor seinem konservativen Kontrahenten Federico
       Gutiérrez].
       
       ## Gewerkschaften haben sich besser aufgestellt
       
       Doch die Gewerkschaften haben auch ihre Hausaufgaben gemacht und die
       eigenen Strukturen weiter reformiert. Statt auf kleine
       Betriebsgewerkschaften zu setzen, sind es 18 Branchengewerkschaften, die
       für mehr Durchschlagskraft bei der Aushandlung der Tarifverträge sorgen.
       Zudem verhandelt der CUT dort besonders hartnäckig, wo der
       Organisationsgrad hoch ist: im staatlichen Sektor.
       
       Zwei Verträge mit der Regierung wurden 2019 und 2021 ausgehandelt, um
       informelle Arbeitsplätze über Subunternehmen und Dienstleister in formale
       Arbeitsverträge umzuwandeln. „Das schlägt sich in steigenden
       Mitgliederzahlen nieder“, so der Direktor der nationalen
       Gewerkschaftsschule (ENS), Carlos Díaz Lotero.
       
       Dort ist die Strategie entstanden, gerade weil die Gewerkschaften im
       Privatsektor nach wie vor verpönt sind. „Dort gibt es nur wenige positive
       Beispiele wie den Zementhersteller Arcos oder die erfolgreichste Bank,
       Bancolombia. Die arbeiten seit Jahren erfolgreich mit den Gewerkschaften
       zusammen“, berichtet Díaz Lotero. Doch einen Multiplikator-Effekt hat das
       bisher nicht gehabt.
       
       Gewerkschafter leben deshalb nach wie vor gefährlich in Kolumbien. Dafür
       ist CUT-Präsident Maltés Tello ein gutes Beispiel. Mehrfach musste er nach
       Morddrohungen ins Ausland fliehen. Auch ein Grund, weshalb die beiden
       Bodyguards vor der gepanzerten Eingangstür zu den CUT-Büros sitzen. Leider
       notwendig.
       
       26 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Protestwelle-in-Kolumbien/!5769364
   DIR [2] /Bremer-Aktivistin-ueber-Kolumbien/!5767529
   DIR [3] /Erfolg-der-Linken-in-Kolumbien/!5839855
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Knut Henkel
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumbien
   DIR Gewerkschaft
   DIR Streik
   DIR Kolumbien
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Kolumbien
   DIR IG
   DIR Bogotá
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wahlsieger Gustavo Petro in Kolumbien: Vom Ex-Guerillero zum Präsidenten
       
       Mit 17 Jahren trat Gustavo Petro in die Guerilla M-19 ein. Heute steht der
       künftige Präsident auch für gelungene Friedensverhandlungen.
       
   DIR Präsidentschaftswahl in Kolumbien: Tanzen und singen an ihrer Seite
       
       Francia Márquez könnte Kolumbiens erste schwarze Vizepräsidentin werden.
       Für viele Arme ist sie eine Hoffnungsträgerin.
       
   DIR Erfolg der Linken in Kolumbien: Keine Revolution, aber Meilenstein
       
       Mit Gustavo Petro könnte Kolumbien dieses Jahr zum ersten Mal einen linken
       Präsidenten bekommen. Doch im Parlament droht eine Blockade.
       
   DIR Bremer Aktivistin über Kolumbien: „Alle machen sich Sorgen“
       
       In Kolumbien gibt es seit Wochen blutige Demonstrationen gegen die
       Regierung. Mittlerweile kommt der Protest auch in Bremen an.
       
   DIR Protestwelle in Kolumbien: Auf der Straße
       
       Nach massiven Protesten nimmt Kolumbiens Präsident Iván Duque eine geplante
       Steuerreform zurück. Gleichzeitig schickt er die Armee in die Städte.