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       # taz.de -- Autorin über Alkoholmissbrauch: „Trinken wird eben auch gegendert“
       
       > Als emanzipierte Frau sollst du trinken wie ein Mann, sagt die
       > Food-Journalistin Eva Biringer, die selbst ein Alkoholproblem hatte.
       
   IMG Bild: Eva Biringer schreibt über die Geschlechterdimension von Alkoholmissbrauch
       
       taz: Frau Biringer, während der Alkoholkonsum in den vergangenen Jahren
       generell abgenommen hat, steigt er bei einer Gruppe: beruflich
       erfolgreichen Frauen ab 30 Jahren. Ist Alkoholismus etwa eine
       Begleiterscheinung des Feminismus? 
       
       Eva Biringer: Ich bin der Meinung, dass es Frauen als emanzipativ verkauft
       wird, zu trinken. Die Serie „Sex and the City“ (SatC) ist immer noch mein
       Lieblingsbeispiel: Als erfolgreiche Frau in einem coolen Job, finanziell
       unabhängig, gehört der After-Work-Drink zum Lifestyle dazu.
       
       In Ihrem Buch „Unabhängig“ schreiben Sie: „Die Zukunft ist weiblich, der
       Wein ist pink“. Ist das nicht ein arges Klischee? 
       
       Dabei handelt es sich um ein Zitat der US-Autorin Holly Whitaker („Quit
       Like a Woman“) und ja, es klingt nach Klischee, aber auf gewisse Weise wird
       Trinken eben auch gegendert. Rosé-Sekt oder der Cosmopolitan wie bei SatC
       sind zu Symbolen eines gewissen Glamours geworden. Die Psychotherapeutin
       Ann Dowsett Johnston spricht in diesem Zusammenhang von einer
       „Feminisierung der Trinkkultur“. Und tatsächlich besteht ein nachweisbarer
       Zusammenhang zwischen dem Grad an Emanzipation in einem Land und dem Anteil
       trinkender Frauen.
       
       Woran liegt das? 
       
       Als emanzipierte Frau sollst du machen, was Männer auch machen. Also kannst
       beziehungsweise sollst du auch trinken wie ein Mann. Wobei es hier zu einem
       gewissen Paradoxon kommt.
       
       Inwiefern? 
       
       Man bewegt sich als Frau auf einem schmalen Grat: Gar nicht trinken ist
       komisch – dann bist du entweder schwanger, nimmst Medikamente oder hast ein
       Alkoholproblem. Zu viel trinken geht aber auch nicht, da läuft man
       besonders als Frau Gefahr, schnell stigmatisiert zu werden. Eine Freundin
       von mir hat das mit dem gesellschaftlich akzeptierten Körperbild
       verglichen: Zu dick sein darfst du keinesfalls – zu dünn sein aber auch
       nicht.
       
       Sie schaffen eine Verbindung [1][zwischen dem exzessiven Alkoholkonsum] von
       Frauen und dem Wunsch, dünn zu sein. Stichwort: Drunkorexia. 
       
       Essstörungen und Alkohol sind eine sehr gängige Kombination. Viele, die an
       Bulimie oder Anorexia nervosa, also Magersucht, leiden, trinken. Erst mal
       passt das gar nicht zusammen, schließlich hat Alkohol viele Kalorien und
       erhöht den Kontrollverlust. Gerade bei Anorexia geht es hingegen darum, die
       Kontrolle zu behalten und möglichst wenig Kalorien aufzunehmen. Schaut man
       genauer hin, passen beide Verhaltensmuster aber doch gut zusammen. Du
       kannst nicht immer kontrolliert sein, und da ist das Trinken für viele der
       vermeintliche Ausweg, loslassen zu können. Bei mir war es jedenfalls so:
       Trinken war der Exzess, den ich mir sonst verboten habe.
       
       Sie arbeiten als Food-Journalistin und haben nun aufgehört Alkohol zu
       trinken. Ist das vereinbar? 
       
       Ich höre den Satz seltener als anfangs gedacht, aber wenn, kommt er immer
       von Männern: Du schreibst über Essen und trinkst nicht? Du musst doch was
       zum Wein sagen können.
       
       Was ist Ihre Antwort? 
       
       Nein, ich muss nichts zum Wein sagen können. Erstens gibt es mittlerweile
       ganz wunderbare alkoholfreie Getränkebegleitungen. Zweitens, und das ist
       wichtiger: Ich habe oft vom Essen kaum etwas mitbekommen, weil ich schon ab
       der zweiten Vorspeise besoffen war. Das passiert in meiner Branche gar
       nicht so selten, schließlich ist Alkohol da sehr präsent. Auf Pressereisen
       wird ständig getrunken; man muss die Journalist*innen ja bei Laune
       halten. Im Food-Bereich beginnt man den Tag gern mal mit einem
       Schnapsbrennereibesuch. Auf diesem Grat zu wandeln war schwer: Ich hatte
       das Gefühl, mittrinken zu müssen, um nicht aus der Rolle zu fallen, und
       gleichzeitig durfte ich nicht zu viel trinken. Denn das wäre ja
       unprofessionell.
       
       Mit elf Jahren haben Sie angefangen, Alkohol zu trinken. Von da an hat sich
       Ihr Konsum mit den Jahren immer weiter gesteigert. Haben andere Menschen
       Sie auf Ihren Alkoholkonsum angesprochen? 
       
       Kaum. Ein Ex-Freund von mir, ein Sommelier, hat mal nach einer exzessiven
       Nacht gesagt: Eva, ich will dich so nicht mehr sehen. Das war eine Ansage.
       Aber sonst hat niemand was gesagt. Ich bin aber auch sehr offen mit meinem
       Konsum umgegangen, weil ich dachte, das würde mich schützen.
       
       Wovor? 
       
       Ich dachte, die Kontrolle zu behalten, wenn ich ehrlich damit umgehe, dass
       ich viel trinke. Freund*innen erzählte ich von meinen Abstürzen, auf
       meinem Instagram war alles voll mit Weinflaschen und Drinks. Ich rechnete
       Ausgaben sogar in meinen Lieblingsdrink um – mein Wechselkurs war der
       Negroni-Index.
       
       Wie lange hat es gedauert vom Realisieren, dass Sie [2][ein Alkoholproblem]
       haben könnten, bis zum Entschluss, nüchtern zu werden? 
       
       Im Prinzip dauerte es circa 12 Jahre. Mit Anfang 20 habe ich den
       Uni-Psychologen gefragt, ob es ein Problem sei, dass ich jeden Tag zwei
       Gläser Wein trinke. Er gab mir einen ausgedruckten taz-Artikel von Daniel
       Schreiber in die Hand mit. Den habe ich heute noch. Im Grunde wollte ich
       damals keine Antwort, es aber mal formuliert haben. Offensichtlich hatte
       ich aber bereits die selbstkritische Überlegung, dass es nicht cool ist,
       jeden Tag zu trinken. Zudem fand ich Tage, an denen ich nicht trinken
       konnte, doof. Auch ein Zeichen.
       
       Trotzdem haben Sie weiter getrunken? 
       
       Ja, es war ein langer Prozess. Ich wollte immer was erleben und habe
       deshalb getrunken. Das ist für Frauen weniger typisch. Männer neigen eher
       dazu, Erlebnistrinker zu werden. Viele Frauen trinken, um ihre Gefühle zu
       unterdrücken, um endlich mal abzuschalten und nicht ständig diesem mental
       load ausgesetzt zu sein.
       
       Die [3][Pandemie war da nicht gerade hilfreich]. 
       
       Ja, soziale Trinker haben in der Pandemie weniger getrunken, da die Anlässe
       durch geschlossene Clubs und Bars wegfielen. Bei Menschen, die aber vorher
       schon dazu tendiert haben, alleine und/oder bei Problemen zu trinken, hat
       sich der Alkoholkonsum erhöht. Besonders unter Müttern ist er gestiegen, da
       sie durch die zunehmende Care-Arbeit einer hohen Belastung ausgesetzt
       waren.
       
       Sie schreiben, Sie seien der Meinung, dass sich die Politik aktiv dagegen
       entscheide, einen Beitrag zur Gesundheit der Bevölkerung zu leisten. Wie
       meinen Sie das? 
       
       Es ist klar, dass Deutschland ein Alkoholproblem hat. Die Zahlen
       unterscheiden sich je nach Erhebung, aber Deutschland ist immer vorne mit
       dabei, was den Pro-Kopf-Verbrauch betrifft. Weltweit sterben mehr Menschen
       durch Alkohol als durch Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Verbrechen. Da
       entstehen für das Gesundheitssystem immense Kosten, um für alkoholbedingte
       Ausfälle und Behandlungen aufzukommen. Aber darum kümmert sich die Politik
       hierzulande nicht, weil die Lobby so groß ist. Sabine Bätzing-Lichtenthäler
       (SPD), die letzte Politikerin, die aktiv versucht hat, etwas zu ändern, ist
       quasi aus dem Amt gejagt worden. Dabei helfen Steuererhöhungen und ein
       Werbeverbot, den Alkoholkonsum zu regulieren. Erfolgreiche Beispiele dafür
       sind Island oder Schottland.
       
       Sie vertreten die gewagte These, dass Alkoholismus „keine Krankheit,
       sondern eine verdammt blöde Angewohnheit“ ist. 
       
       Ja, das ist meine Meinung. Aber ich möchte hier differenzieren. Wenn du
       körperlich abhängig bist, ist es keine Gewohnheit mehr, dann ist es eine
       Krankheit. Bis dahin ist es aber ein langer Weg. Die Frage ist: Wo fängt
       Abhängigkeit an? Bin ich schon abhängig, wenn ich jeden Tag einen Drink
       trinke, aber nie betrunken bin? Oder bin ich nur abhängig, wenn ich beim
       Trinken nicht aufhören kann? Und was ist mit denen, die abstürzen, dann
       monatelang gar nicht trinken? Letztlich geht es um Selbsteinschätzung.
       
       Also würden Sie sich nicht als Alkoholikerin bezeichnen? 
       
       Nein. Ich hab beispielsweise nie morgens getrunken, ich konnte auch einen
       Monat nicht trinken und trotzdem war ich abhängig, – aber war ich
       Alkoholikerin? Ich mag den Begriff und das Bild, das er vermittelt, einfach
       nicht. Deswegen tue ich mich auch schwer mit „Anonymen Alkoholikern“. Die
       dort propagierte Auffassung, mein Ego erst mal klein machen und mich bei
       anderen entschuldigen zu müssen, wird meiner Lebensrealität nicht gerecht.
       
       Sondern? 
       
       Ich orientiere mich da an feministischen Perspektiven aus der sogenannten
       sober scene. Dort heißt es, besonders Frauen sei in ihrer Abhängigkeit
       nicht geholfen, wenn sie sich erst mal klein machen. Als Frau entschuldigt
       man sich sowieso schon viel zu viel für alles Mögliche. Als Erstes muss ich
       mich bei mir selbst entschuldigen. Dafür, was ich meinem Körper und meiner
       Seele angetan habe.
       
       27 May 2022
       
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