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       # taz.de -- Theater aus Bochum: Spiel mit der Schaulust
       
       > Abwehr der Angst und Freude an der Fülle: Das klingt in „Baroque“ an,
       > inszeniert von Lies Pauwel in Bochum. Sie blickt auf Welt- und
       > Körperbilder.
       
   IMG Bild: „Baroque“ inszeniert eine wütende Aufklärung gegen die Diskriminierung mehrgewichtiger Körper
       
       [1][Walter Benjamin] arbeitete 1928 in seiner Habilitationsschrift über das
       Trauerspiel als Erster heraus, wie stark die moderne Lebenserfahrung mit
       der barocken Endzeitstimmung verschlungen ist. Gryphius, Calderón oder
       Shakespeare lieferten Stücke, so Benjamins These, die vor dem Hintergrund
       des Dreißigjährigen Kriegs oder von tödlichen Seuchen der existenziellen
       Unsicherheit des Publikums entsprachen: als melancholische Versenkung in
       allegorische Bilder und als sinnliche Schaulust.
       
       So überrascht es nicht, dass in einer Gegenwart aus Pandemie, Krieg,
       Klimazerstörung, Inflation, Hunger und Flucht die Parallelen zum barocken
       Theatrum Mundi offensichtlich werden. Lies Pauwels’ Inszenierung „Baroque“
       im [2][Schauspielhaus Bochum] trägt die Epoche bereits im Namen und
       Darsteller Mourad Baaiz steht gleich zum Auftakt an der Rampe, um die Angst
       vor der Leere, den Horror Vacui in elegische Formeln zu packen: kein Gott,
       keine Zukunft, keine Geschichte.
       
       Es gehört zugleich zum barocken Mindset, diese Weltuntergangsstimmung und
       den Ennui durch eine Fülle, eine Feier des Lebens zu kompensieren. Das
       signalisiert bereits eine Diskokugel, die von der Decke des
       Schauspielhauses Bochum hängt, ein Wink an das Vanitas-Motiv: Memento mori
       oder Carpe diem? Ja, in Pauwels’„Baroque“ untermauern schon das überladene
       Bühnenbild und die Kostüme von Johanna Trudzinski diese Grundstimmung
       zwischen Verfallensein an den Tod und der Verlockung eines prallen Lebens.
       
       Ein üppiges Stillleben faltet sich auf einer riesengroßen Leinwand auf und
       der Blick fällt auf eine Statue von Apollo, Motive von Caravaggio folgen,
       untermalt von Mozart oder Bach, später erklingen auch Popsongs.
       
       ## Monströse Klassifizierung
       
       Pauwels hinterfragt in ihrer Inszenierung zugleich den mehrgewichtigen
       Körper als Sinnbild der Gegenwart. Das geschieht nicht ohne Ironie: Gleich
       zum Auftakt ertönt ein lautes Elefanten-Törö. Neben den fünf
       Ensemblemitgliedern sind es auch vier üppige Laiendarstellerinnen, die sich
       auf einen Sockel stellen. Darauf steht zunächst „Homo“, später auch „homo
       monstrosus“, eine Anspielung auf Carl von Linnés Klassifizierung. Denn der
       Biologe ging im 18. Jahrhundert tatsächlich noch davon aus, dass von der
       Norm abweichende Körper als monströse Kreaturen vom Homo sapiens abweichen.
       
       Gerade in Zeiten, in denen Instagram-Filter einen standardisierten
       Körperkult befördern, gehören solche Diskriminierungen noch immer zum
       Alltag, zusammengefasst als [3][Body Shaming oder Lookism.] Ann Göbel mimt
       diese Haltung, von oben herab spricht sie auf eine der übergewichtigen
       Bühnenakteure ein, um virulente Floskeln über „Dicke“ zu verbreiten.
       Pauwels gibt gerade diesen Akteuren eine Bühne, die in
       Stakkato-Sprechchören gegen diese Vorurteile anschreien.
       
       „Baroque“ inszeniert damit auch eine wütende Aufklärung, welche die
       Diskriminierung von Mehrgewichtigen in einem gesellschaftlichen Kontext aus
       Diät- und Kulturindustrie einordnet – auch in Bezug auf Judy Freespirits
       und Aldebarans „Fat Liberation Manifesto“, das im Programmheft zitiert
       wird.
       
       Pauwels hat bereits im 2018 im Schauspielhaus Bochum aufgeführten
       „Hamiltonkomplex“ bewiesen, dass sie es versteht, körperliche Konventionen
       zu unterwandern. Damals tanzten Menschen mit körperlichen und geistigen
       Beeinträchtigungen zu greller Popmusik neben einem Bodybuilder als laute
       Reflexion: Welcher Körper entspricht der Norm, welcher weicht ab?
       
       ## Definitionen der Norm unterlaufen
       
       Solche Definitionen unterläuft die belgische Regisseurin in „Baroque“, auch
       indem sie ihr Ensemble gleichzeitig in knallbunter Garderobe und mit
       allegorischen Requisiten aufgaloppieren lässt. Mourad Baaiz hüpft als
       Hofnarr über die Bühne oder Mercy Dorcas Otieno lässt ein Skelett auf ihrem
       Kopf tanzen, bis das Ganze zu einer allegorischen Effektshow ausartet.
       Überdimensionierte Schokoladentafeln, Lollipops oder Chipstüten werden
       präsentiert.
       
       Überhaupt wird viel getanzt: Jing Xiang und William Cooper legen eine
       flotte Modern-Dance-Performance hin, während wir zugleich eine Aufzählung
       der überlappenden Konsumgesellschaft hören: zu viel Zucker, zu viel
       Netflix, zu viel Starbucks. Pauwels spielt mit der Gleichzeitigkeit aus
       Text, Bühnenbild, Musik und vor allem Körperlichkeit.
       
       Ihr totales Theater greift die barocke Schaulust auf, um den Blick auf den
       Anderen zu hinterfragen: „Baroque“ feiert ein sinnliches Bühnenfest mit
       allegorischen Effekten, melancholischen Zwischentönen und der Erkenntnis,
       dass wir angesichts einer Vergänglichkeit und ungewissen Krisenzeiten keine
       Zeit dafür verschwenden sollten, abweichende Körper zu diskriminieren.
       
       16 May 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Benjamin Trilling
       
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