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       # taz.de -- Kulturwissenschaftlerin übers Lesen: „Trösten kann auch dröge Theorie“
       
       > Erbauliche Lektüre: Die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier kommt
       > mit ihrem schönen Buch „Trost“ nach Göttingen.
       
   IMG Bild: Geht auch mit Theorie: Für viele Menschen hat Lesen tröstliche Effekte
       
       taz: Frau Engelmeier, wenn jemand [1][Ihr Buch] im „Lebens-“ oder oder auch
       „Selbsthilfe“-Regal im Buchladen des Vertrauens sucht – und vielleicht
       sogar darin findet: Wie froh wird er*sie damit? 
       
       Hanna Engelmeier: Ich vermute, dass diese*r Leser*in wenn nicht
       unglücklich, dann zumindest auch nicht getröstet würde. Ich habe mir nicht
       angemaßt zu versuchen, [2][Leuten in Krisensituationen Trost zu spenden].
       Sondern zu analysieren, in welchen Situationen Lektüre tröstlich wirken
       kann und was es mit einer vielleicht allgemeinen Trost-Funktion von
       Literatur auf sich haben könnte. Dabei ging es mir weniger darum, Trost als
       eine Art Heilungseffekt oder Reparaturverfahren für seelische Notlagen zu
       verstehen, sondern als ein ästhetisches Erlebnis. Da wäre es vermutlich für
       jemanden, der*die konkrete Rezepte haben möchte, eine Enttäuschung.
       
       Trotzdem gibt es diese Ebene, scheint mir: Das Buch handelt vom
       Zusammenhang von Lesen und Getröstetwerden. Und in so mancher Rezension –
       davon haben Sie ja nicht wenige bekommen –, stößt man auf die Sicht: Auch
       das Buch selbst hat durchaus tröstlich gewirkt auf die Rezensierenden. 
       
       Mich hat das gefreut, auch wenn mir Leser*innen das geschrieben haben.
       Das hat mich auch sehr gerührt. Ich glaube, was an dem Text als tröstlich
       empfunden wird, ist der Beobachtungsmodus, den ich versucht habe mir dafür
       zu erarbeiten.
       
       Worin besteht der? 
       
       Vor allem darin, bestimmte Regungen bei der Lektüre genau zu beschreiben,
       sie auch ernst zu nehmen. Eines der Themen ist ja, dass man sich oft dafür
       schämt, trostbedürftig zu sein – und dann auch noch zu lesen, ausgerechnet,
       um das zu kontern. Das gilt ja, zumal im akademischen Rahmen, als nicht
       unbedingt angemessen. Weil so ein Lesen nichts damit zu tun hat, einen Text
       analytisch zu durchdringen und dadurch Erkenntnis zu erzeugen. Sondern
       damit, ihn für ganz eigenen Zwecke und ganz subjektiv zu funktionalisieren.
       Trotzdem glaube ich, dass das immer wieder passiert – nicht nur bei
       erklärtermaßen erbaulichen Texten, sondern auch bei ganz dröger Theorie.
       Mit der sich ja, wer entsprechend gepolt ist, auch trösten kann.
       
       Also, bei mir rennen Sie da die sprichwörtliche offene Tür ein … 
       
       Ich glaube, das Tröstliche daran könnte unter anderem sein, dass bestimmte
       Lese- oder auch Lebenssituationen als wiedererkennbar erscheinen. Und
       Identifikation spielt sicherlich eine Rolle. Es könnte also sein, dass
       einige Leser*innen solche Identifikationsmomente hatten. Und dann trete
       ich im Buch ja auch dafür ein, dass das in Ordnung ist, dass es eine
       schützenswerte Art zu lesen ist, für die man sich nicht zu schämen braucht
       – dass es in Ordnung ist, trostbedürftig zu sein und sich damit auch an
       Texte zu wenden, und zwar ausdrücklich Texte aller Art.
       
       Wie ist das Buch überhaupt entstanden? 
       
       Ich habe halt etwas, das bei mir selbst vorkommt, auch bei anderen
       beobachtet: ein Phänomen, das auch teilweise benannt wird, aber nur selten
       ausgearbeitet wird; schon deshalb, weil Trost sehr subjektiv und partikular
       ist. Deshalb scheint dieses Phänomen erst mal wenig theoriefähig oder
       objektivierbar zu sein. Das hat mich herausgefordert, weil ich dachte: Man
       muss es aber doch irgendwie eingrenzen können. Also habe ich versucht,
       diese Grundidee – das ist etwas rein Subjektives – besonders ernst zu
       nehmen; und in meinem Schreibverfahren abzubilden.
       
       Was genau heißt das? 
       
       Dass ich mir erlaube, subjektiv zu schreiben und auch gar nicht zu
       behaupten, dass es nicht subjektiv sei – sondern zu sagen: ja, es ist
       subjektiv und man kann das ernst nehmen. Das heißt aber nicht, dass das
       Gesagte nicht auch intersubjektiv nachvollziehbar wäre und nicht auch zu
       Erkenntnissen führte.
       
       Nun ist ja der Trost durchs Lesen – oder der Trost des Lesens – das eine.
       Und dann gibt es, komplementär oder darin verschränkt, auch den Trost des
       Schreibens. Sie haben von beidem kosten können, könnte man sagen – hat das
       Buch zu schreiben Sie selbst überraschende tröstliche Effekte gezeitigt? 
       
       Es gibt seit der Antike eine Auseinandersetzung mit dem Schreiben als einer
       sogenannten Selbsttechnik. Also als ein konventionalisierten Verfahren, das
       hilfreich ist, um sozusagen seelisch oder geistig in Ordnung zu kommen und
       Dinge, die man erlebt und die einen vielleicht auch angreifen, zu
       bearbeiten und damit auch zu verarbeiten. Insofern ist Schreiben sicherlich
       dem ganzen Bereich des Trostes ohnehin nahe, weil das, was ich als Trost
       beschreibe, in gewisser Weise auch eine Technik ist. Für mich war die
       Arbeit an dem Buch trotzdem auch sehr anstrengend: Es hat relativ lange
       gedauert, ich habe mehrere Jahre daran gearbeitet, nicht am Schreibvorgang
       selbst, das geht relativ schnell.
       
       Aber? 
       
       Das Entwickeln eines Verfahrens, in dem ich ja auch teilweise sehr
       heterogene Elemente miteinander kombiniere und mich dazu dann auch noch
       selbst positioniere: Das war sehr aufwendig und hat viele Schleifen
       gebraucht, viel Abwägungsarbeit und auch viel, ja, Diskussionen mit meiner
       Lektorin oder meinem Lektor, aber auch mit Freundinnen und Freunden, die
       das Buch in allen möglichen Aggregatzuständen gelesen haben. Das wäre für
       mich ein weiterer wichtiger, tröstlicher Effekt.
       
       Nämlich? 
       
       Dass man mit so einem Text, an dem man mit vielen Leuten arbeitet, eine
       bestimmte Form der Kommunikation und der Gemeinschaft auch herstellt. Für
       mich ist das am Schreiben nicht nur dieses Buches fast das Wichtigste: dass
       es zu einem Austausch kommt mit anderen Leuten, die sich für das Gleiche
       interessieren – oder sich vielleicht noch nicht dafür interessieren, aber
       dann dadurch, dass man darüber schreibt, dafür interessieren können.
       
       Strukturiert ist das Buch in vier „Übungen“ (zuzüglich eines Nachsatzes, in
       dem ein Dackel eine wichtige Rolle spielt). War das von Anfang an klar? 
       
       Ja, das ist eine frühe Idee gewesen. Was in den einzelnen Kapiteln
       behandelt wird, hat sich im Laufe der Arbeit stark verändert. Aber die als
       „Übungen“ zu bezeichnen, stand relativ früh fest. Das war vielleicht auch
       eine Art Vorsichtsmaßnahme, um mir selbst zu vermitteln, dass diese
       Exerzitien, die es ja auch sind, durchaus etwas Vorläufiges haben. Und mir
       selbst zu vermitteln, dass ich das Buch nicht in Stein meißele. Und mir
       dadurch etwas von der von der Last zu nehmen, dem Gewicht der teils ja sehr
       großen Fragen, die darin vorkommen. Gleichzeitig ist es auch ein Wortspiel,
       es klingt das Genre des Essays an, aber eben auch die geistlichen
       Exerzitien.
       
       Es kann dabei auch eine Form von Scheitern geben – erst das Üben führt ja,
       wenigstens der Redensart zufolge, zur Meisterschaft. Im Kapitel zum Autor
       [3][David Foster Wallace] referieren Sie [4][dessen Gedanken], dass der
       gescheiterte Text eigentlich der bessere sei, weil er nach einem nächsten
       Text verlangt, der „den Trost bereithält, vielleicht besser zu werden“.
       Wenn Sie das Buch jetzt noch mal schreiben dürften oder müssten, würde es
       schon wieder anders geraten? 
       
       Das ist für mich tatsächlich ein sehr wichtiger Gedanke. Für mich ist ein
       fertiger Text einer, den ich an einem bestimmten Punkt loslasse; bei dem
       ich denke: Ich kann für diesen Text jetzt nichts mehr tun – weil ich erst
       mal alles gegeben habe. Klar: Manchmal muss man Texte, das wissen Sie ja
       selbst, abgeben, wenn man an diesem Punkt noch nicht ist. Aber idealerweise
       sagt man: Ich kann jetzt nichts mehr tun. Und gleichzeitig ist immer klar,
       zumindest bei der Art und Weise, wie ich schreibe oder was ich mache: Es
       könnte immer ein bisschen anders sein. Der Text behält also eine Art
       Offenheit, in die sich im besten Fall das Publikum einschreiben kann in der
       Lektüre; eigene Dinge ergänzen oder ihn ablehnen, ihm widersprechen kann.
       Und ja: Für mich ist jeder Text immer haltbar bis zum nächsten.
       
       18 May 2022
       
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