# taz.de -- Buch über ikonische Denkerinnen: Dem Leid mitleidlos begegnen
> Deborah Nelson porträtiert sechs ikonisch gewordene Denkerinnen und
> Künstlerinnen, die bis heute polarisieren.
IMG Bild: Hannah Arendt, Philosophin und Publizistin
Das Leid, das die Coronapandemie jenseits unserer Wohlstandsinseln im
Schlepptau führt, ist in seiner Massivität schwer fassbar. Eine nackte Zahl
von 15 Millionen Toten in den Jahren 2020/21 lieferte Anfang Mai eine
Schätzung der Weltgesundheitsorganisation. Doch ging diese Meldung
irgendwie unter, sind wir doch derzeit mehr damit beschäftigt, uns an die
atemraubenden Kriegsbilder von Gewalt, Tod und Zerstörung aus der Ukraine
zu gewöhnen.
Addiert man zu diesem Horror das permanente Grundrauschen einer noch viel
größeren Bedrohung für das menschliche Überleben – den Klimawandel –, kommt
einem das Vorstellungsvermögen gehörig abhanden, wie diese Realität noch
händelbar sein soll und wendet den Blick vielleicht lieber fatalistisch ab.
Oder läuft sich, dem mitfühlenden Geist unserer Zeit entsprechend, in
sozialmedienverstärkter emotionaler Überhitzung tot.
Die Protagonistinnen in Deborah Nelsons Buch „Denken ohne Trost“ – Diane
Arbus, [1][Hannah Arendt], [2][Joan Didion], Mary McCarthy, [3][Susan
Sontag] und Simone Weil – würden einem solche Empfindungen vielleicht als
(selbst)mitleidiges Mimimi um die Ohren hauen.
## Polarisieren bis in die Gegenwart
Bei ihnen handelt es sich um solitäre Intellektuelle, Schriftstellerinnen
und Künstlerinnen, die sich in der westlichen Auseinandersetzung mit den
Traumata des 20. Jahrhundert einen Ruf eminenter Bedeutung erstritten und
die bis heute ihr Lesepublikum polarisieren. Von den einen kultisch verehrt
ob ihres kühlen Weltzugangs, sahen andere bei ihnen vor allem Gefühl- und
Herzlosigkeit am Werk, was nicht selten in dem Vorwurf ad feminam gipfelte,
dass die Damen wohl unter charakterlicher Deformation litten.
Neutraler spricht man besser von einer Haltung der Unsentimentalität, die
diese Frauen in der Konfrontation mit dem Leid ihrer Gegenwart einnahmen.
Der Auslotung dieser Haltung, der damit verbundenen Erkenntnispraxis und
einem von gefühligen Schlacken befreiten Stil, widmet sich Nelson in ihrem
ebenso voraussetzungsreichen wie lektüre-intensiven Gruppenporträt in fünf
Kapiteln.
„Wir sind ästhetisch, politisch und moralisch verpflichtet, uns der
Realität zu stellen, so schmerzhaft sie auch sein mag, und zwar ohne dabei
den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen“, bringt Nelson die
unsentimentale Haltung der Denkerinnen ohne Trost auf den Punkt.
Damit bewegen sie sich auf einem schmalen Grat zwischen Coolness und
ironiegepanzerter Kälte einerseits und einer von Traumastudien
beeinflussten, empathievollen und solidarisierungsbekennenden
Leidenseinfühlung andererseits, die sich als Bewältigungsstrategien im
Umgang mit den Verheerungen des 20. Jahrhunderts etablierten.
Arendt und Co. dagegen, so eine zentrale Differenzierung Nelsons, zeichnet
aus, dass sie dem Schmerz gegenüber nicht gleichgültig bleiben, dass sie
vielmehr auf einer mutigen, ungeschützten, für Selbstveränderung offenen
Auseinandersetzung mit dem Leid bestehen. Während sie sich gleichzeitig
weigern, dieses Leid zu sakralisieren. Wohlüberlegt und reflektiert
misstrauen sie den Gefühlen und dem Tröstlichen, weil sie uns daran
hindern, der schmerzhaften Realität ins Gesicht zu sehen.
Es ist bei dieser Skizze des Unsentimentalen nicht unbedeutend, dass es
sich um Frauen handelte, die diese Haltung einnehmen. Denn von Frauen
erwartete man, dass sie sich qua Frausein empathieprall und mitfühlend der
Welt und den Anderen gegenüber zeigten. Weigern sie sich, dieser Erwartung
zu entsprechen, noch dazu recht furchtlos öffentlich exponiert, so ist das
oben erwähnte Verdikt der Kälte und charakterlichen Deformation schnell
ausgesprochen.
Aufgrund der Häufung des Katastrophischen gewinnt Nelsons Analyse und
gewinnen die Arbeiten der sechs Denkerinnen ohne Trost an
weiterlesenswürdiger Aktualität. Nicht nur schärft sich der Blick auf die
eigene Gefühligkeit, mit der man dieser Wirklichkeit so wenig
realitätstauglich begegnet. Darüber hinaus ist dies ein wohltuend
unsentimentaler Einspruch gegen den Geist unserer Zeit.
Es ist keine Aufforderung, gefühllos durch die Welt zu marschieren, wohl
aber eine, den Gefühls- und Empathieanrufungen, den ständigen
Solidarisierungs- und Identitätsbekenntnissen, von denen unsere öffentliche
Sphäre überquillt, mit etwas Skepsis zu begegnen. Denn Emotionalität macht
uns nicht zwangsläufig zu besseren Menschen. Und Empathie ist kein Garant
für die Rettung unserer Welt.
2 Jun 2022
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## AUTOREN
DIR Eva Berger
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