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       # taz.de -- Duoalbum David Grubbs & Jan St. Werner: Die Wörter abklopfen
       
       > Die Musiker David Grubbs und Jan St. Werner erinnern mit ihrem ersten
       > Duo-Album „Translation from Unspecified“ daran, wie zugänglich Avantgarde
       > war.
       
   IMG Bild: David Grubbs und Jan St. Werner in einer Aufzugkabine in Berlin, Januar 2022
       
       „Die welt ist sirup aus der sprache unsrer väter“. Der österreichische
       Schriftsteller Oswald Wiener wusste, wo der Hammer hängt. Er zertrümmerte
       damit Worte, Grammatik und Sinn in „die verbesserung von mitteleuropa,
       roman“ nach Gusto.
       
       Das Goldene Zeitalter der europäischen [1][Avantgarde] war beim Erscheinen
       von Wieners Werk, 1969, schon am Abklingen, dennoch konnte sie ihre
       Formensprachen und Gedankenwelten damals auch zur besten Sendezeit einem
       Mainstreampublikum darbieten, das sich bereitwillig provozieren ließ und
       dessen Zielgruppen noch nicht auseinanderdividiert waren.
       
       Der New Yorker Musiker [2][David Grubbs] erweckt jene versunkene Ära zu
       neuem Leben – ganz selbstverständlich, als müsse er nur die Snooze-Taste am
       Wecker betätigen, nimmt er Wieners Hammer aus der Museumsvitrine.
       
       ## Hammer als Werkzeug
       
       Auf Grubbs’ neuem Album „Translation from Unspecified“, entstanden zusammen
       mit seinem Berliner Künstlerkollegen Jan St. Werner, ist der Hammer kein
       mythengetränktes Symbol, sondern schlicht und einfach Werkzeug. Grubbs
       hämmert damit; nie ehrfürchtig, feinstofflich geht er zu Werke, jedes Wort,
       jede Silbe abwägend, behutsam und beharrlich nach Klang abklopfend, und so
       stößt er wieder auf Sinn, an Stellen, wo gar kein Sinn mehr zu existieren
       schien.
       
       „Translation / From Unspecified / Detected / Translate from unspecified /
       Indistinct / Detect buildings / Buildings undermined / Stones / Trees /
       Translate from / Unbitten / Indistinct / Detect on / Undermined …“ Worte
       wie Felsbrocken, die die beiden Musiker bergen und bearbeiten, als wären
       sie in einem Steinbruch. St. Werner bohrt das Gesprochene von allen Seiten
       aus an, mal schroff, mal ziseliert unterbricht er den Flow der Worte mit
       extravaganten Störgeräuschen, mal beschleunigen diese die Worte, mal
       bringen sie die Worte zum Verglühen.
       
       Während St. Werner beim 18-minütigen Titeltrack oftmals das Echo von
       Grubbs’ Stimme verfremdet und sie so in andere Sphären bugsiert, kehrt er
       bei der 19-minütigen Riff-Rêverie „Soixante Ooze“, einem Instrumentalstück,
       das auf einer meditativen Gitarren-Hookline von Grubbs basiert, alles
       Störende weg und hält Begleitgeräusche von Verstärker und Gitarre fern.
       Faszinierend an „Translation from Unspecified“ ist die Reduktion auf das
       Wesentliche: Musik als formstrenge und funktionale Konzentration zweier
       Kräfte.
       
       ## Eingeführte Künstler
       
       St. Werner und Grubbs kennen sich bereits seit den 90er Jahren. Jeder für
       sich ist als Künstler eingeführt. In der elektronischen Klangerzeugung
       jenseits des Dancefloors reüssierte St. Werner mit dem Duo-Projekt Mouse On
       Mars (zusammen mit Andi Thoma). Grubbs wurde bekannt in der
       US-Postrockszene, die er zunächst in den Bandprojekten Bastro und Gastr Del
       Sol entscheidend mitprägte, dann auch als Solist und in Projekten mit
       wechselndem Personal.
       
       „Translation from Unspecified“ ist ihr erstes gemeinsames Album. Die
       geometrisch abgezirkelte Arbeitsteilung schiebt den Prozesscharakter an:
       Grubbs spricht, spielt Gitarre und Keyboard, Werner bricht das Gespielte
       und Gesprochene am Laptop auf. Elegant und zugleich abrupt gewährt ihre
       Musik ein Stück Sicherheit in unsicheren Zeiten. Wie ein Nachen, der auf
       düsterem Gewässer in See sticht und trotz Sturm die Fahrrinne hält.
       
       Alte Kommunikationslinien werden wieder aufgenommen, neue
       Artikulationsnischen gebildet. „Translation from unspecified / to
       Unspecified / from / Translation to unspecified / from Unspecified /
       Translation to Unspecified / from Unspecified …“ Grubbs markiert die
       Methodik des Gesprochenen im lakonischen Ton. Ruhig, scheinbar emotionslos
       zählt er auf, und während des Aufzählens wandelt er das Gesagte ab. Die
       empirische Wirklichkeit ficht ihn erst mal nicht an.
       
       ## Klang der Worte
       
       Der taz schreibt er: „Ich gestehe, dass ich schon den reinen Klang jener
       Worte mag. Ihre Bedeutungen interessieren mich an sich weniger. Es wird
       allerdings behauptet, Wortwiederholungen und repetitive Textzeilen in Musik
       eliminieren deren Bedeutungen, weil Worte zu reinem Klang zerfließen. Als
       ich an den Worten für die Musik gearbeitet habe, habe ich mich genau in die
       entgegengesetzte Richtung bewegt: Durch die stupende Repetition bekam ich
       überhaupt wieder eine Chance, über die mannigfaltigen Wortbedeutungen
       nachzudenken.“
       
       Worte bleiben stehen, und Bedeutungen können sacken. Wie sich die beiden
       Musiker Zeit nehmen, ist beeindruckend: Selbst Pausen und Momente der
       Stille, in denen überraschenderweise auch St. Werner verstummt, wirken
       dadurch aufputschend. Um sich zu inspirieren, hat der New Yorker Künstler
       an einer Übersetzung eines Textes von Gerhard Rühm experimentiert.
       
       Weil die freie Übersetzung in verschiedene Sprachen zu keinen greifbaren
       Ergebnissen geführt hat, kam er auf die Idee, in einem Songtext das Thema
       Übersetzung aufzugreifen: „Translation from Unspecified“ beginnt zwar mit
       Worten, die isoliert von ihren Bedeutungen erklingen. Allmählich entpuppt
       sich aus der unspezifizierten Übersetzung eine Geschichte, in der Gebäude
       zu Bäumen werden.
       
       ## Konzertkarriere als Langgedicht
       
       Mit Formen, Bedeutungen und Übersetzungen spielt Grubbs auch in seinem
       neuen Buch „Good night the pleasure was ours“. Er lässt darin seine rund
       30-jährige Konzert- und Tournee-Karriere als Musiker in einem Langgedicht
       Revue passieren. Keine Sorge, man muss hier keinem Bekenntniszwang in
       Tourtagebuchform folgen.
       
       Stattdessen durchkreuzen sich Form, Fiktion und wahre Begebenheiten immer
       wieder auf äußerst kreative Weise. Umso mehr, weil die Anordnung von
       Worten, Silbentrennungen regelmäßig den Plot unterbricht, so dass selbst
       Anekdoten, wie die vom Spreißel, den sich der Drummer bei einem
       [3][Konzert] im Hamburger Grünspan in die Ferse gerammt hat, anmuten wie
       ein dreifüßiger Jambus in Ovids „Metamorphosen“.
       
       Wie bei Grubbs Zeitgeschehen als Realitätsblitze in die Strophe
       einschlagen, das hat was: Sei es die Konfusion im Berlin zur Wendezeit,
       Bargespräche, während im Fernseher über dem Tresen Panzer am Platz des
       Himmlischen Friedens in Peking auffahren. Aus dem romantischen
       Künstlerdasein wird Luft gelassen, und gerade im sinnlosen Warten vor dem
       Soundcheck, der monotonen Landschaften, die sich bei der Fahrt von Auftritt
       zu Auftritt neben Highways und Autobahnen auftun, Poesie geschürft. David
       Grubbs, Fänger im Rocken.
       
       ## Fänger im Rocken
       
       „It’s easy to learn the thing that makes the audience howl: the pulling up
       
       Quick, potent milliseconds of silence, tinnitus pre-echo, tremor
       
       Graduating to temblor, ominous absence
       
       of impact …“
       
       Hier durchschaut jemand das Spiel, wird aber deswegen – zum Glück – nicht
       ignorant. David Grubbs bleibt neugierig, reflektiert munter weiter und ist
       dadurch weiterhin relevant.
       
       27 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Musiker-Tony-Conrad/!5345237
   DIR [2] /US-Musiker-David-Grubbs/!5326859
   DIR [3] /Mixed-Media-Performance/!5061199
       
       ## AUTOREN
       
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