URI: 
       # taz.de -- Klimawandel und Energiepolitik: Vernagelt fürs Offensichtliche
       
       > Warum finden wir manchmal den Senf nicht, obwohl er direkt vor uns steht?
       > Das Phänomen erklärt einiges – und gibt Hoffnung.
       
   IMG Bild: Wo war noch gleich der Senf?
       
       Wo ist der verdammte Senf? Ich starre in den offenen Kühlschrank und kann
       es nicht fassen. Gestern war das Döschen mit „Bautz´ner Senf mittelscharf“
       noch da. Jetzt finde ich es nicht beim Naturjoghurt, nicht hinter dem Glas
       mit den Gurken, die wie grüne Goldfische aussehen, und auch nicht bei den
       Gewürzsaucen von zweifelhafter Herkunft.
       
       Die Zeit drängt, der Ofen bollert schon und die Quiche muss in die Hitze.
       Ich räume, suche und fluche, finde aber nichts. Schließlich gebe ich auf
       und nehme ein neues Senfglas aus dem Vorratsschrank. Am nächsten Tag grinst
       mir der gesuchte Bautz´ner Senf aus dem Kühlschrank entgegen. Gleich vorn,
       knapp über Augenhöhe.
       
       Vielleicht ist es das Alter. Vielleicht aber auch die Erkenntnis, dass
       nichts so schwierig zu sehen ist wie das Offensichtliche. Was direkt vor
       unserer Nase stattfindet, nehmen wir nicht wahr. Wir haben uns so daran
       gewöhnt, dass es das Gehirn als Hintergrund einordnet. Wie sonst kann es
       sein, dass die EU nun plötzlich merkt, dass sie für ihren [1][Green Deal]
       aber mal ganz hurtig doppelt und dreifach so viel Windkraftwerke und
       Solarparks bauen muss?
       
       Dass wir uns auf einmal daran erinnern, dass früher viel mehr Mücken,
       Fliegen und Wespen auf unserer Haut und unserem Pflaumenkuchen saßen? Dass
       diese mit SUV-Panzern vollgeparkten Seitenstraßen ziemlich fies sind, wenn
       man mit Kindern über die Straße will? Oder dass Wladimir Putin gar nicht
       der nette deutschsprachige Gasmann mit Goethe-Zitat ist, sondern ein
       brutaler Kriegsverbrecher?
       
       Wer Edgar Allen Poes Geschichte „Der entwendete Brief“ (wo die Polizei eine
       Wohnung auf den Kopf stellt, während der gesuchte Brief offen auf dem
       Küchentisch liegt) oder meinen Kühlschrank kennt, den kann das nicht
       verwundern. Interessanter ist aber die Frage, was wir derzeit nicht sehen,
       obwohl und weil es gerade vor unseren Augen stattfindet. Die Futur-2-Frage
       lautet: „Warum werde ich das nicht bemerkt haben?“ Zum Beispiel: Dass
       überall der Wald verdorrt. Dass es im Mai in Berlin Tage mit 30 Grad-Hitze
       gibt. Dass [2][die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels] nur noch so theoretisch
       möglich ist wie ein deutscher Sieg beim Eurovision Song Contest.
       
       Falls es Sie tröstet: Wir sind nicht allein darin, für das Offensichtliche
       vernagelt zu sein. Auch die FDP wird in sechs Monaten lautstark ein
       Tempolimit von 95 km/h auf der Autobahn fordern und behaupten, das sei
       immer schon vernünftig gewesen. So wie die Liberalen jetzt den
       Emissionshandel lieben, den sie noch vor ein paar Jahren bis aufs Messer
       bekämpft haben.
       
       [3][Polen] wird sich mit Grausen von der Kohle abwenden, weil die einfach
       viel zu teuer ist, auch Frankreich wird beim Atom die Grundrechenarten
       entdecken und „putain, quelle folie!“ rufen. Die Auto-Konzerne werden in
       drei Jahren behaupten, sie hätten nur widerwillig und auf politischen Druck
       hundert Jahre lang Verbrennungsmotoren gebaut. Tönnies wird seine
       Schlachtfabriken zu Mahnmalen des karnivoren Zeitalters machen und am
       Gruseltourismus plus Sojawurst sein Geld verdienen.
       
       Und alle werden wir sagen: Am Baggersee in der Uckermark kann man sowieso
       viel besser chillen als auf den Seychellen. Weil sich keiner mehr über die
       Palmen in Klein-Knöckeritz wundert oder über das Schnorcheln zwischen
       Nacktarsch und Buntbarsch im Weiher von Wuselow. Es war ja schon lange
       klar, dass die Tropen zu uns kommen. Wir wollten es bloß nicht wahrhaben.
       
       21 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fragen-und-Antworten-zum-Green-Deal/!5851964
   DIR [2] /UN-Bericht-zur-Erderhitzung/!5854491
   DIR [3] /Streit-mit-Polen-um-Braunkohletagebau/!5834040
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
       ## TAGS
       
   DIR Wir retten die Welt
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Energiewende
   DIR Russland
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Energiewende wegen Ukrainekrieg: EU erklärt ihre Unabhängigkeit
       
       Mit einem neuen Energiepaket will die EU weg von russischem Öl und Gas.
       Doch nicht alle Maßnahmen sind mit dem Klimaschutz vereinbar.
       
   DIR Fragen und Antworten zum Green-Deal: Macht die EU ernst?
       
       Am Dienstag entscheidet der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments
       über die Reform des Emissionshandels.
       
   DIR UN-Bericht zur Erderhitzung: Wie lange bis zur +1,5-Grad-Grenze?
       
       Ein einziges Jahr, das im Schnitt 1,5 Grad zu heiß ist, bedeutet nicht,
       dass das Ziel aus dem Pariser Abkommen verfehlt wird. Aber es wird knapp.