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       # taz.de -- Überwachungskameras in Gefängnissen: Lückenlose Auswertung
       
       > Niedersachsens Landtag erlaubt Künstliche Intelligenz zur Auswertung von
       > Überwachungsvideos in Gefängnissen. Dabei bleiben Fragen offen.
       
   IMG Bild: Automatisierte Auswertung im Sinne der Gefangenen? Überwachungskameras in der JVA Düsseldorf
       
       Osnabrück taz | Prävention von Suiziden, von Gewalt. Das hört sich ja erst
       mal positiv an. Ein höheres Gut als das Leben gibt es nicht, sein Schutz
       ist wichtig. Aber die Novelle des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes,
       die der hannoversche Landtag kürzlich beschlossen hat, geht dabei sehr
       weit. Nach [1][drei Jahren Beratung], geprägt von der Uneinigkeit der
       Großen Koalition, öffnet sie den Weg für den Einsatz [2][Künstlicher
       Intelligenz] (KI) im Justizvollzug. Die Video-Überwachung von Inhaftierten
       soll damit erweitert werden, als automatisierte, algorithmenbasierte
       Situations- und Gegenstandserkennung. Ein harter Eingriff in die
       informationelle Selbstbestimmung.
       
       Bisher werden die Kamera-Aufzeichnungen in Justizvollzugsanstalten von
       Menschen kontrolliert. Aber die Fülle der Bilder auf den Monitorwänden ist
       groß, die Personaldecke ist dünn, Echtzeitüberprüfung oft unmöglich. Die
       KI soll assistieren und Alarm auslösen, wenn sich [3][Eigen- oder
       Fremdgefährdung] anbahnt.
       
       Marco Genthe, Sprecher für Justizvollzug des Landesvorstands der FDP, ist
       skeptisch. Der Einsatz von KI, sagte Genthe vergangene Woche im
       Landtags-Plenum, sei „völlig unklar reguliert“. Seine Partei enthielt sich
       bei der Abstimmung.
       
       Auch Volker Bajus, sozialpolitischer Sprecher der Grünen, hat starke
       Bedenken. Die Dauer der Datenspeicherung sei „völlig willkürlich gewählt“,
       sagt er im Plenum – im Prinzip können die Daten, auch wenn nichts passiert
       ist, eine Woche lang aufbewahrt werden, was im Rahmen der Suizidprävention
       absolut sinnlos ist.
       
       Bajus tritt vor allem Christian Calderone entgegen, dem rechtspolitischen
       Sprecher der CDU-Fraktion, der im Plenum sagt, die CDU stelle sich
       [4][KI-Videoüberwachung] auch in anderen Bereichen von Haftanstalten und
       außerhalb von Haftanstalten vor. „Uns Grüne treibt die Sorge, dass
       KI-gestützte Videoüberwachung nicht nur der Unterstützung dienen soll“,
       sagt Bajus der taz. „Hier wird auch so manche staatliche Kontrollfantasie
       beflügelt, wenn KI Stück für Stück, mit gefälligen Sicherheitsargumenten,
       ausgeweitet werden soll.“ Eine Totalüberwachung sei „für alle
       freiheitsliebenden Demokrat*innen eine Horrorvorstellung“.
       
       Suizidprävention in Gefängnissen, ist Bajus überzeugt, könne „nur durch
       gute sozialpsychologische Betreuung gewährleistet“ werden. In den JVAs
       mangele es an Personal. „Statt für Abhilfe zu sorgen, versucht die Große
       Koalition mit einem modern klingenden Pilotprojekt von Missständen
       abzulenken.“
       
       Besonders pikant: Schon Ende Dezember 2021 wurde die Ausschreibung für das
       Projekt gestartet, Ende März 2022 der Auftrag dafür erteilt – weit vor der
       Verabschiedung der gesetzlichen Grundlage für den Einsatz von KI. Drei
       Jahre Zeit haben das Forschungszentrum Informatik in Karlsruhe und VOMATEC
       Innovations nun, für rund eine Million Euro den Justiz-Einsatz von KI zu
       erforschen. Die Test-Justizvollzugsanstalt ist in Oldenburg.
       
       Was dazu an Technik installiert wird, wer und was durch sie überwacht wird,
       nach welchen Kriterien die KI eingreift? „Die Fragen können zum jetzigen
       Zeitpunkt noch nicht beantwortet werden“, sagt Hans-Christian Rümke,
       Sprecher des Niedersächsischen Justizministeriums, auf taz-Anfrage. Das
       Projekt stehe am Anfang.
       
       Schon im März 2021 hatte Niedersachsens Landesbeauftragte für den
       Datenschutz in einer [5][Stellungnahme] zum Forschungsvorhaben gesagt: „Der
       Einsatz von KI-Systemen bedeutet in der Regel einen tiefen Eingriff in die
       Grundrechte und Freiheiten der betroffenen Personen.“ Eine Beobachtung
       sämtlicher Hafträume sowie gemeinschaftlich genutzter Bereiche sei kaum zu
       rechtfertigen. Im Gesetz steht jetzt: „bestimmte Bereiche“.
       
       „Personal ist knapp und teuer“, sagt der Osnabrücker Rechtsanwalt Thomas
       Klein, der als Strafverteidiger Inhaftierte vertritt. „Da scheint es
       verlockend, auf die Technik zu vertrauen. Dabei geht es doch darum, die
       Haftsituation für Gefangene so zu gestalten, dass es gar nicht zu
       Situationen kommt, die Menschen an Suizid denken zu lassen.“ Das gelte auch
       für Gewalttätigkeiten, „die ja auch nicht aus dem Nichts kommen“.
       
       365 Fälle physischer Gewalt unter Gefangenen wurden 2021 in Niedersachsens
       Gefängnissen dokumentiert. In den letzten fünf Jahren lag diese Zahl immer
       zwischen knapp unter 300 und knapp über 400, eine Aufwärtstendenz gibt es
       also nicht. 18 Suizidversuche gab es 2021 und sechs vollzogene Suizide.
       Auch hier ist in den vergangenen fünf Jahren keine Steigerung zu
       beobachten. Natürlich ist jeder Fall ist einer zu viel. Aber eine besondere
       Dringlichkeit scheint es nicht zu geben.
       
       Die Gesetzesnovelle widerspricht sich im Übrigen selbst: Indem sie die
       Mindestbesuchsdauer pro Monat halbiert, trage sie potenziell dazu bei, dass
       seelische Notlagen sich vertiefen, die eventuell in Gewalt oder Suizid
       münden, sagt Rechtsanwalt Klein. Er wünscht sich stattdessen mehr
       persönliche Zuwendung durch mehr empathisches JVA-Personal und mehr und
       bessere Kontaktmöglichkeiten zu den Menschen draußen.
       
       30 May 2022
       
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