URI: 
       # taz.de -- Roman zu Frauen in der DDR: Weggesperrte Freigeister
       
       > Bettina Wilpert erzählt in „Herumtreiberinnen“ von Frauen, die sich dem
       > DDR-Regime nicht beugten. Sie mussten dafür teuer bezahlen.
       
   IMG Bild: Bettina Wilpert: 2018 erschien ihr Debütroman “Nichts, was uns passiert“ im Verbrecher Verlag
       
       Im Sommer 1983 verändert sich für Manja alles. Erst schwänzt die 17-Jährige
       mit Maxie die Schule, dann brechen die Freundinnen betrunken in eine Laube
       ein, und schließlich singt Manja in einem Schulaufsatz das Hohelied auf die
       Freiheit in der BRD.
       
       All das sorgt natürlich für Ärger, wir sind hier in der DDR, aber zum
       Verhängnis wird ihr die Liebe. Sie verguckt sich in den mosambikanischen
       Vertragsarbeiter Manuel und besucht ihn in seinem Wohnheim. Dort wird sie
       bei einer Razzia festgenommen, denn Frauen, die sich mit „solchen Männern“
       einlassen, müssen entweder Prostituierte oder asoziale Elemente sein.
       
       In dieser Szene, mit der [1][Bettina Wilperts] neuer Roman
       „Herumtreiberinnen“ Fahrt aufnimmt, wird zweierlei deutlich. Zum einen der
       strukturelle Rassismus in den DDR-Organen gegenüber den Gastarbeitern aus
       den sozialistischen Bruderländern, zum anderen die reaktionäre Sexualmoral
       und Misogynie des Staatsapparats.
       
       ## Die „Tripperburg“ in Leipzig
       
       Manja wird in die „Tripperburg“ in der Leipziger Lerchenstraße gebracht,
       eine geschlossene venerologische Station. In die wurden zu DDR-Zeiten
       Mädchen und Frauen ab dem zwölften Lebensjahr zwangseingewiesen, wenn
       Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit bestand. Dafür reichte es aus, wenn
       Frauen auf Bahnhöfen oder bei Konzerten allein unterwegs waren. Der Vorwurf
       der „Herumtreiberei“ und „Arbeitsbummelei“ diente als Vorwand, um mit
       Unterstützung der Stasi politisch unliebsame Personen aus dem Verkehr zu
       ziehen.
       
       Diesen Teil der Geschichte greift die in Leipzig lebende Schriftstellerin
       auf. Sie lässt Manja nach ihrer Entlassung von den Wochen in
       Gefangenschaft, den brutalen medizinischen Untersuchungen, ihrer inneren
       Einsamkeit und den anderen Frauen erzählen. So lernen wir Sascha kennen,
       die beim Trampen festgenommen wurde, Kerstin, die von ihrer gnadenlosen
       Mutter ausgeliefert wurde, und Marion, die einsaß, weil sie als
       Prostituierte mit der Stasi aneinandergeriet.
       
       Über die Freiheit und körperliche Selbstbestimmung dieser Frauen verfügte
       Stationsleiter Höcks, vor dem sie sich ebenso in Acht nehmen mussten wie
       vor „Kurbeldoris“ und ihren groben Leibesvisitationen. Ihre Brutalität wird
       auf die Frauen übergreifen, sodass auch Manja nicht frei von Schuld bleibt.
       
       Schon in ihrem Debüt „Nichts, was uns passiert“ ging [2][Bettina Wilpert]
       dahin, wo es wehtut. In dem Roman beschrieb sie die Folgen eines
       One-Night-Stands, den Anna als Vergewaltigung und Jonas als
       einvernehmliches Miteinander erlebte. Über diese antagonistischen Figuren
       führte die Leipziger Autorin ihre Leser:innen in die ungemütlichen
       Grauzonen der Wirklichkeit.
       
       ## Unterdrückung, Entmündigung und Isolation
       
       Auch „Herumtreiberinnen“ ist kein bequemer Roman, er leuchtet vielschichtig
       die verschiedenen Dimensionen von Unterdrückung, Entmündigung und Isolation
       in unterschiedlichen Zeiten aus. In auktorial erzählten Nebensträngen
       begegnen wir Lilo und Robin. Lilo kommt im Winter 1945 in die
       Lerchenstraße. Sie trieb sich im Auftrag ihres im Widerstand aktiven Vaters
       in der Stadt herum und trug Botschaften von A nach B. Siebzig Jahre später
       arbeitet Robin im einstigen Durchgangslager Lerchenstraße als
       Sozialarbeiterin.
       
       Im Keller des Hauses, das jetzt als Unterkunft für Geflüchtete dient, stößt
       sie auf Unterlagen aus der venerologischen Station. Dieser faktische
       Brückenschlag schließt leider nicht die logische Lücke, die diese Figur in
       die Erzählung reißt. Weder ist Robin ein Alter Ego der Autorin, noch kennt
       sie die Erfahrung von Repression und Isolation, die Lilo und Manja teilen.
       
       Dennoch: „Herumtreiberinnen“ ist ein aufwühlender Roman, in dem mit Motiven
       und sprachlicher Taktung Zeiten überbrückt werden. Sporadisch erhebt sich
       immer wieder ein universeller Chor der Inhaftierten. „Wir, in der
       Lerchenstraße“, heißt es an einer Stelle, „dürfen nicht reden, müssen den
       Mund halten, stehen in Reih und Glied.“ Bettina Wilpert gibt den
       entmündigten Frauen aus der Lerchenstraße ihre Stimmen zurück.
       
       3 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sexualisierte-Gewalt-in-Leipzig/!5771416
   DIR [2] /Leseshow-in-Berlin/!5666644
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Hummitzsch
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Roman
   DIR Frauen
   DIR DDR
   DIR Gefängnis
   DIR Sexualmoral
   DIR wochentaz
   DIR Mutterschaft
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Roman
   DIR Roman
   DIR psychische Gesundheit
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR deutsche Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Zwangseinrichtungen in der DDR: Die Mädchen von der 114 c
       
       In sogenannten Tripperburgen wurden in der DDR Tausende junge Frauen
       eingesperrt und diszipliniert – auch Martina Blankenfeld. Sie kämpft für
       ein Gedenken.
       
   DIR Roman „Die bärtige Frau“: Körper und Natur
       
       Wie es ist, ein Kind zu gebären: Bettina Wilpert liefert in ihrem neuen
       Roman eine eindringliche Darstellung von Mutterschaft im 21. Jahrhundert.
       
   DIR 33 Jahre nach dem Mauerfall: Geschichte, abgestaubt
       
       Dort, wo in Leipzig noch heute vergilbte Gardinen aus Stasi-Zeiten hängen,
       soll bald Leben einziehen. Eine Ortsbegehung des Projekts
       „Zukunftszentrum“.
       
   DIR Zweiter Roman von Christian Baron: Bürgerlichkeit und Lumpenproletariat
       
       Der Schriftsteller Christian Baron erzählt in seinem Roman „Schön ist die
       Nacht“ atmosphärisch dicht aus einer untergehenden Schicht.
       
   DIR Debütroman über Aufwachsen in Südtirol: Wenn Wörter hässlich machen
       
       Maddalena Fingerles Debütroman „Muttersprache“ kreist um eine scheinbar
       bilinguale Welt. Ihr Protagonist leidet vor allem an dreckigen Wörtern.
       
   DIR Auswirkungen der Coronapandemie: Literatur und Systemrelevanz
       
       Wie hart trifft die Pandemie die Kulturschaffenden? Einige von ihnen
       sprechen darüber am Donnerstag im Berliner Brecht-Haus. Vier Protokolle
       vorab.
       
   DIR Sexualisierte Gewalt in Leipzig: Dünne Luft für linke Männer
       
       In den vergangenen Jahren wurden immer mehr Vorfälle sexualisierter Gewalt
       in emanizpatorischen Räumen öffentlich. Wie geht die Szene damit um?
       
   DIR Leseshow in Berlin: Literatur im Labor
       
       Es ist mutig, aus unfertigen Romanen zu lesen. Aber genau das verlangt
       „Kabeljau & Talk“. Am Samstag stellte sich dem die Autorin Bettina Wilpert.