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       # taz.de -- Lindners Tankrabatt und die Wirklichkeit: Ganz Holland sagt Danke
       
       > In den Niederlanden ist Autofahren sehr teuer, trotzdem gibt es nicht
       > weniger Autos. Lindners Tankrabatt setzt jetzt einen regen Grenzverkehr
       > in Gang.
       
   IMG Bild: Seit dem 1. 6. super günstig: PKW aus den Niederlanden an einer Tankstelle in Aachen
       
       Die Minderjährige, die zu meiner Hausgemeinschaft gehört, hält mich für zu
       theoretisch. Wenn ich etwas für logisch und nachweisbar hielte, glaubte ich
       doch tatsächlich, es entspräche der Wirklichkeit. Ich stelle hierzu fest:
       Es stimmt. Immer kommt mir gewissermaßen die Empirie in die Quere. [1][Von
       der Generation Z weiß man] beispielsweise durch Studien sehr genau, dass
       ihr eine gute Work-Life-Balance mit ausreichend Zeit für Power-Yoga und
       Töpfern, Familie und Freunde wichtiger ist als eine große Karriere und viel
       Geld. Empirisch betrachtet sieht es jedoch so aus: Die Minderjährige
       beschied jüngst einem Berufsberater in der Schule, sie wolle später einmal
       reich werden. Welcher Beruf passe denn bitte dazu? Allzu anstrengend sollte
       er allerdings nicht sein. Genau ihrem Lebensgefühl entspräche nämlich ein
       Song, den sie aus Versehen auf einer „Alte-Leute-Playlist“ von Spotify
       gehört hätte – „Ich wär so gerne Millionär“ von den Prinzen.
       
       Meinem Lebensgefühl entspricht indes der Prinzen-Song „Fahrrad“, den ich
       grob auswendig kann: „Jeder AfD-Popel fährt ’nen Opel, jeder Linke fährt
       ’nen Ford, jeder Lindner fährt ’nen Porsche, jeder Scholz ’nen Audi Sport,
       jeder Wissing fährt ’nen Manta, jeder Merz ’nen Jaguar, nur die Grünen
       fahren Fahrrad und sind immer früher da.“
       
       Wäre in Deutschland Autofahren also sehr deutlich teurer, Fahrradfahren
       attraktiver und der öffentliche Nah- und Fernverkehr ein ständiger und
       kostenloser Quell der Freude, wäre eine Verkehrswende längst Realität.
       Schon der Grüne Jürgen Trittin, der ja bekanntlich von Natur aus recht hat,
       wusste lange, bevor er 2013 die Wahl verlor: Eigentlich müsste Benzin fünf
       Mark pro Liter kosten. Dann wird alles gut.
       
       Hohe Benzinpreise führen zu weniger Verkehrsaufkommen und damit auch zu
       einer besseren CO2-Bilanz. Kurz gesagt müsste man es so machen wie die
       Niederlande. Theoretisch jedenfalls. Die holländischen Treibstoffpreise
       sind im Durchschnitt 30 Cent höher als in Deutschland und ein Neuwagen
       kostet bis zu 40 Prozent mehr. Nirgendwo sonst in Europa ist Autofahren so
       teuer. Ein Erfolgsrezept, wie aus dem grünen Wahlprogramm. Doch wieder will
       die missliche Wirklichkeit nicht der Theorie folgen. Denn: [2][Es gibt kaum
       weniger Autos in den Niederlanden.] Offenbar scheint es in den Niederlanden
       auch keine Pendler*innen zu geben, die aufgrund der hohen Spritpreise
       verarmen oder ihren Job nicht mehr ausüben können. Die Empirie ist ein
       Mysterium.
       
       Die Niederländerin, die in unserer Hausgemeinschaft für die Versorgung mit
       Hummus und Pita zuständig ist, beobachtet entsprechend ratlos die
       Diskussionen in Deutschland. Wie jetzt, hohe Benzinpreise? Wie meint ihr
       das? Und schon ist sie auf dem Weg zur deutschen Tankstelle, um mit dem
       herrlich günstigen E10-Treibstoff den Tank bis zum Rand zu füllen.
       Angesichts des Lindner’schen Tankrabatts sagt ganz Holland Danke. Denn in
       dem kleinen Land ist die deutsche Grenze praktisch von überall aus nah
       genug für einen beschaulichen Tankausflug. Auch für unsere Hausgemeinschaft
       ist in den nächsten Monaten reger Grenzverkehr geplant. Natürlich offiziell
       wegen der bedauernswerten Hummus-Versorgungslage in Deutschland, die es zu
       beheben gilt. Bleibt der Tankrabatt, werde ich mir wohl einen
       Zweitkühlschrank zulegen müssen. Und wenn man schon mal angereist ist, will
       die Niederländerin auch das 9-Euro-Ticket empirisch würdigen. Sie arbeitet
       sich bereits in die Sylt-Reiseliteratur ein.
       
       Theorie und Wirklichkeit klaffen jedoch nicht immer so weit auseinander.
       Die AfD ist beispielsweise theoretisch genauso leer wie in der Praxis.
       Bundeskanzler Olaf Scholz ist theoretisch und empirisch gleichermaßen
       faszinierend. [3][Außenministerin Annalena Baerbock verbessert die
       Menschenrechte] auf der Welt theoretisch genauso wenig wie in der
       Wirklichkeit.
       
       Und auch auf die Minderjährige ist Verlass. Theoretisch wird das pubertäre
       Gehirn ein bis zweimal am Tag so durchgeschüttelt, dass eine
       [4][Kernschmelze unausweichlich] ist. Und empirisch ist es ganz genauso.
       
       5 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.stern.de/panorama/generation-z--warum-sie-mit-ihrer-kritik-an-der-arbeitswelt-recht-hat-31907222.html
   DIR [2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163406/umfrage/kfz-dichte-in-ausgewaehlten-europaeischen-laendern/
   DIR [3] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-haushalt/2533896
   DIR [4] https://www.nytimes.com/2019/02/12/well/family/how-to-help-teens-weather-their-emotional-storms.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Silke Mertins
       
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