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       # taz.de -- Streit um das Erbe: Sie macht jetzt einfach
       
       > Seit Kurzem ist Katja Kipping Senatorin für Integration, Arbeit und
       > Soziales in Berlin. Die Ex-Linken-Chefin blüht auf. Ihrer Partei geht es
       > schlecht.
       
       Wo ist nur der Raum mit der Giraffe? Katja Kipping nimmt zielstrebig die
       Treppe in die Lobby des Tierparkhotels, bleibt kurz stehen, wendet sich
       nach rechts und lugt durch eine halb offene Tür.
       
       Das Hotel, in dem Kipping herumirrt, ist ein modernisierter Plattenbau in
       Ostberlin. Es hat 278 Zimmer auf zehn Etagen und etliche Tagungsräume.
       Gegenüber, gleich hinter einer vierspurigen Straße, liegt der noch vor dem
       Mauerbau eröffnete Tierpark in einer riesigen Parkanlage.
       
       Während der Coronazeit wurde das Hotel zum Ausbildungshotel. Hier konnten
       Berliner Azubis, deren Betriebe während des Lockdowns dichtmachten, ihre
       Ausbildung beenden, finanziert vom Berliner Senat. Die Linke
       Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat das Projekt eingefädelt. Ihre
       Nachfolgerin ist seit Dezember Katja Kipping. An einem Montag im Mai macht
       sie sich ein Bild von Breitenbachs Vermächtnis. Doch vorher wandelt sie auf
       den Spuren ihrer Vergangenheit.
       
       Hier muss sie sein, die Giraffe. Katja Kipping betritt den Raum „Serengeti“
       und klatscht einmal in die Hände. Tatsächlich. Die Wand an der Stirnseite
       ist mit einem gigantischem Giraffenkopf bemalt. „Die Giraffe hat uns immer
       so lustig über die Schultern geschaut, wenn wir hier getagt haben“, freut
       sich Kipping. Als Kipping noch Vorsitzende der Linkspartei war, traf sich
       der Vorstand hier manchmal zur Klausur. „Nächste Woche sind wir wohl wieder
       hier, aber diesmal ohne mich“, sagt Kipping. 2021 gab sie den Parteivorsitz
       der Linken, den sie 9 Jahre gemeinsam mit Bernd Riexinger innehatte, ab.
       
       Ein dreiviertel Jahr später wurde sie Linke Senatorin für Integration,
       Arbeit und Soziales in Berlin. In einer Dreierkoalition mit der SPD und den
       Grünen.
       
       Nun leitet sie ein Haus mit vier Abteilungen, drei Stabsstellen, fünf
       nachgeordneten Behörden und 2.300 Mitarbeiter:innen. Sie kümmert sich um
       Geflüchtete, um Obdachlose, um Azubis, 60 Stunden die Woche. „Es geht mir
       blendend“, sagt Kipping.
       
       Die Diskrepanz zur Linkspartei könnte damit nicht größer sein. [1][Der geht
       es schlecht, richtig dreckig.] Als Kipping und Riexinger im Februar '21
       ihre Posten räumten, hätten laut Umfrage nur noch 7 Prozent der
       Wähler:innen für die Linke gestimmt. In den Bundestag war die Linke im
       Herbst dann mit Ach und Seufz eingezogen. Mit 4,9 Prozent – dank dreier
       Direktmandate.
       
       Drei Landtagswahlen gingen seither krachend verloren. Im Saarland, in
       Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen rutschten die Linken auf das
       Niveau der Tierschutzpartei. Die bundesweiten Umfragen sehen sie
       mittlerweile bei 4 Prozent. Wäre der Bundestag ein Tierpark, stünde die
       Linke inzwischen auf der Roten Liste – vom Aussterben bedroht.
       
       Die Hilfeschreie aus der Partei mehren sich. Es gibt öffentliche Aufrufe
       und offene Briefe, jetzt klares Profil zu zeigen, geschlossen zu stehen und
       mit einer Stimme zu sprechen. Aber wie sieht es aus, das klare Profil?
       Davon gibt es in der Linken ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die
       Fronten in der Partei sind verhärtet, verschiedene Lager werfen sich
       gegenseitig vor, nicht links genug zu sein, zu linksdogmatisch, zu
       regierungsfreundlich oder zu oppositionsfixiert, zu kriegstreiberisch oder
       zu realitätsfern, zu grün oder zu wenig ökologisch.
       
       In der Partei, die Frieden und Solidarität zum Prinzip erklärt, tobt seit
       Jahren ein Bürgerkrieg. Die einen fordern Rückbesinnung auf die Linke als
       soziale Protestpartei, die anderen wollen die Linke modernisieren.
       Besonders tief sind die Schützengräben in der Bundestagsfraktion. Da
       bekommen neue Mitarbeiter:innen der Abgeordneten an ihrem ersten Tag
       schon mal eine Einweisung, mit welchen Büros der eigenen Fraktion man
       kooperiert und mit welchen nicht.
       
       Zu gesellschaftlichen Megathemen, ob innen- oder außenpolitisch, findet die
       Linke schon lange keine klare Sprache mehr. Die Abstimmungen im Bundestag,
       allein in den vergangenen 12 Monaten, sprechen für sich: Beim
       Evakuierungseinsatz von Ortskräften aus Afghanistan enthielt sich die
       Mehrheit der Fraktion, bei der Impfpflicht in Pflegeheimen und
       Krankenhäusern enthielt man sich, beim Lieferkettengesetz enthielt man
       sich, zur Frage, ob die Bundesregierung die Ukraine auch mit Waffen
       unterstützen sollte, stimmte die Linke mit Nein. Wenigstens weiß man noch,
       wogegen man ist.
       
       Aber das Wofür ist den meisten Wähler:innen inzwischen unklar. Und so
       trudelt die Linke, mit sich selbst beschäftigt, der eigenen
       Bedeutungslosigkeit entgegen.
       
       Kippings Fähigkeit, Kompromisse für ihre Partei auszuhandeln und
       mitzutragen, die viele loben, war mit dafür verantwortlich, dass Großfragen
       ungeklärt blieben, um die jetzt neu gerungen werden muss. Beim Thema EU
       etwa war die Linke gelähmt zwischen zwei extremen Positionen: einer
       Republik Europa – also einem europäischen Superstaat – oder ihrer
       Zerschlagung. Die Grünen waren da klarer und gewannen bei der Europawahl
       2019 dazu, während die Linke verlor.
       
       Ende Juni trifft man sich zum Parteitag in Erfurt. Dort soll ein Neuanfang
       gelingen – inhaltlich und auch personell. Bereits zum zweiten Mal innerhalb
       von zwei Jahren sucht die Linke nach Nachfolger:innen für Kipping und
       Riexinger. Das erst im Februar vergangenen Jahres nach mehreren Anläufen
       gewählte Spitzenduo trennte sich im April dieses Jahres schon wieder.
       
       Susanne Hennig-Wellsow warf hin, zermürbt von den internen Machtkämpfen und
       widmet sich nun lieber ihrer Familie. [2][Janine Wissler], angeschlagen
       durch Sexismusvorwürfe in ihrem Landesverband, denen sie ihren
       Kritiker:innen zufolge nicht konsequent nachgegangen sei, stellt sich
       zur Wiederwahl.
       
       Seltsam führungslos irrt die Partei nun durch die Zeitenwende, dominiert
       durch eine geschrumpfte Fraktion, in der einige Moskau-freundliche
       Hardliner den Ton angeben.
       
       Mancher sehnt sich schon nach den Zeiten zurück, als Kipping und Riexinger
       noch Parteivorsitzende waren. Auch damals gab es permanent Krach zwischen
       der Parteiführung und der Fraktionsspitze. „Aber Riexinger und Kipping
       haben wenigstens die Partei geführt“, seufzt ein Mitglied des
       Parteivorstandes. Wenn Großereignisse auf die Tagesordnung drängten, hauten
       die beiden 5- oder 7-Punkte-Papiere im Namen der Linken heraus: zur
       Willkommenskultur, für gute Arbeit oder zum Linken Klimaschutz, und gaben
       so die inhaltliche Linie vor.
       
       Machen Sie sich eigentlich keine Sorgen um ihr Vermächtnis, Frau Kipping?
       
       Eigentlich schon, sagt sie, tatsächlich aber habe sie keine Zeit dazu. Sie
       hat jetzt einen anderen Job, statt 5-Punkte-Pläne zu erarbeiten und Streit
       zu schlichten, muss sie Vorgänge abzeichnen und Probleme lösen: „Meine
       gesamte Energie fließt in das, was ich gerade mache.“ Kipping trägt die
       Hauptverantwortung – nicht mehr für eine Partei mit 60.000 Mitgliedern,
       sondern für eine Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern, in der jede:r
       Fünfte als arm gilt, wo 40.000 Menschen kein Obdach haben, in der prekäre
       Arbeit als Normalarbeitsverhältnis gilt. Für eine Linke Sozialsenatorin
       kann es eigentlich kein lohnenderes Betätigungsfeld geben.
       
       Als die taz Katja Kipping Anfang Januar zum ersten Interview in ihrer neuen
       Position trifft, faltet sie gerade ein paar Aktenmappen. Kipping hat ihr
       Büro in dem langgestreckten Backsteinbau im Stadtteil Kreuzberg erst vor
       Kurzem bezogen. Hinter ihr an der Wand hängt ein Gemälde, das noch eine
       ihrer Amtsvorgängerinnen aufhängen ließ. Kipping kneift die Augen zusammen.
       „Finden Sie nicht auch, dass das Bild schief hängt?“ Kaum wahrnehmbar,
       aber sie scheint es zu stören.
       
       Kipping spricht über das, was sie in den nächsten 5 Jahren umsetzen will
       und versteckt sich dabei zuweilen hinter sperrigen Fachbegriffen. Sie will
       eine „branchenspezifische Ausbildungsabgabe“ einführen – ein Umlagesystem
       für Betriebe, die nicht ausbilden, an solche, die ausbilden –, „Housing
       First“ vorantreiben – ein Projekt zur Überwindung der Obdachlosigkeit in
       Berlin – und den Zuzug Geflüchteter besser managen. „Es gibt Prognosen,
       dass wir im ersten Quartal des neuen Jahres ein Defizit von über 500
       Unterbringungsplätzen haben werden“, sagt sie.
       
       Leicht verschätzt.
       
       Am Donnerstag, den 24. Februar, überfällt Putins Armee die Ukraine, Raketen
       zerstören Wohnhäuser, Soldaten massakrieren Zivilisten, Millionen
       Ukrainer:innen flüchten. Berlin wird zum Drehkreuz und Kipping zur
       Krisenmanagerin. Zehntausende Menschen kommen in den ersten Wochen am
       Berliner Hauptbahnhof und am Busbahnhof an.
       
       Der Senat kommt zur Sondersitzung zusammen, Krisenstäbe werden neu
       aufgestellt, der ehemalige Flughafen Tegel zum Ankunftszentrum umgewidmet,
       wo bis zu 500 Menschen für ein, zwei Nächte untergebracht werden können.„Es
       gab keinen Vorlauf, keine Blaupause“, sagt Kipping. „Wir mussten einfach
       handeln.“
       
       Der Kollaps bleibt aus. Bilder von Geflüchteten, die wochenlang vor dem
       Lageso ausharren, um zu erfahren, wie es weitergeht, die monatelang in
       Turnhallen campieren, gibt es diesmal nicht. Auch weil die
       Ukrainer:innen nicht wie einst die syrischen Geflüchteten komplizierte
       Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern ohne Visum einreisen und sich von
       Anfang an frei im ganzen Land bewegen dürfen.
       
       Kipping ist ganz zufrieden mit ihrer Bilanz, als sie Ende Mai zum
       Ankunftszentrum Tegel fährt, um [3][freiwilligen Helfer:innen], die sich
       um Geflüchtete kümmern, Ehrenamtsurkunden zu überreichen. In einer Baracke,
       die einst als Autovermietung diente, haben sich etwa 50 Menschen im
       Halbkreis vor einer Stellwand mit den Namen von Wohlfahrtsverbänden und dem
       Slogan „Wir helfen Berlin“ versammelt. Vor ihnen steht Kipping und spricht
       in ein Mikrofon. 238.000 Menschen sind seit Februar aus der Ukraine in
       Berlin angekommen, 45.000 von ihnen haben Sozialleistungen in Berlin
       beantragt. „Hinter all diesen Zahlen steckt unglaublich viel Arbeit“, sagt
       sie.
       
       Besonders beeindruckend sei die Geschwindigkeit gewesen. Sie sei ja selbst
       erst seit wenigen Monaten in der Verwaltung und habe lernen müssen, wie
       lange manche Vorgänge dauerten. „Allein so eine Ausschreibung, um eine neue
       Sekretärin zu gewinnen, das ist ein Projekt für Monate.“ Nun aber musste
       alles ganz schnell gehen. „Berlin hat es geschafft, dass wir keine
       Turnhallen aufmachen mussten“, sagt sie. Das verdanke man auch den vielen
       Freiwilligen. „Also Ihnen. Dafür mein tiefster Respekt“, sagt Kipping, legt
       eine Hand auf die Brust und verneigt sich. Sie ermuntert die Leute, auch
       auf Probleme hinzuweisen, „denn wir stehen ja in der Pflicht, immer wieder
       Dinge zu verbessern“.
       
       Das tun die Ehrenamtlichen gern. Eine Frau mit rasierten Schläfen hat sich
       bereits während Kippings Rede immer wieder flüsternd zu ihrer Nachbarin
       gebeugt. Sie gehört zu einer Gruppe von Ehrenamtlichen, die
       Ukrainer:innen am Hauptbahnhof in Empfang nehmen.
       
       „Wir sind fast wieder am Anfang“, schimpft sie. Wenn Menschen auf die
       Toilette gehen wollten, bräuchten sie erst einen Chip, dazu müssten sie
       durch den halben Bahnhof laufen. Wieso der Senat nicht mal mit den privaten
       Betreibern verhandele, damit die Klos immer zugänglich sind? Und: „Es kommt
       kaum jemand von der Politik vorbei, der sich erkundigt, was wir brauchen.“
       Immerhin gebe es jetzt rund um die Uhr medizinische Betreuung. Ihre Urkunde
       holt die Frau dennoch ab.
       
       Den Vorwurf, dass niemand sich am Hauptbahnhof blicken lasse, weist Kipping
       empört zurück. Ihr Büroleiter sei täglich vor Ort, um alles direkt mit den
       Freiwilligen zu besprechen, sie selbst wiederholt, auch unangemeldet, dort
       gewesen. Und mit den Toilettenbetreibern habe man permanent nachverhandelt.
       Aber einfach Geld zu überweisen, das gehe eben nicht. „Es muss immer alles
       belegbar sein.“
       
       Willkommen in den Mühlen der Realpolitik. Als Vorsitzende der Linkspartei
       präsentierte Kipping die ganz großen Entwürfe: offene Grenzen für alle, weg
       mit Hartz IV, eine soziale Mindestsicherung für jeden. Ja, sagt sie, die
       Spielräume auf Landesebene seien begrenzt. Eigentlich bräuchte es viel mehr
       Umverteilung, deutlich bessere Sozialleistungen und einen höheren
       Mindestlohn. Doch statt Reiche zu besteuern, schließt sie gerade Verträge
       mit der Kassenärztlichen Vereinigung ab, um die Akutbehandlung von
       Geflüchteten aus der Ukraine zu regeln. Dennoch sei es schön, zu sehen,
       dass sich Dinge bewegen.
       
       „Was ich hier mache, ist das Gegenteil von Vergeblichkeit, zwar noch nicht
       in Perfektion, aber immerhin“, sagt sie. Was sie mit Vergeblichkeit meine?
       „Permanent Vorschläge zu machen, die nie umgesetzt werden.“
       
       In der Linkspartei gehörte Kipping zu jenen, die ausdauernd für ein
       rot-rot-grünes Regierungsbündnis auf Bundesebene warben. Für den Fall von
       Sondierungen hatte sie vor der Bundestagswahl schon ein umfangreiches
       Papier zu ihren Themen Arbeit und Soziales vorbereitet. Das schlechte
       Ergebnis der Linkspartei machte es jedoch obsolet. Dass sie nun dennoch in
       einem rot-rot-grünen Bündnis regieren kann, verdankt sie dem Berliner
       Landesverband. Bei der Landtagswahl, die im Herbst parallel zur
       Bundestagswahl stattfand, musste die Linke zwar leichte Verluste
       verkraften. Für eine Dreierkoalition mit SPD und Grünen reichte es im
       Dezember dennoch.
       
       Gedanken über ihre Zukunft hatte sich Kipping schon länger gemacht. Mit
       gerade mal 43 Jahren hatte sie in der Linkspartei fast alles erreicht. 1999
       zog sie als jüngste Abgeordnete für die damalige PDS in den sächsischen
       Landtag, 2005 als eine der jüngsten Abgeordneten für die Linkspartei in den
       Bundestag, mit 34, kurz nach der Geburt ihrer Tochter, wurde sie
       Parteivorsitzende.
       
       Ihre Gegenkandidatin auf dem Göttinger Parteitag 2012 kam aus Hamburg, doch
       ihr eigentlicher Konkurrent war jahrelang der Ostdeutsche Dietmar Bartsch.
       Eigentlich gehören beide zum gleichen Lager der eher pragmatischen
       Reformer. Doch mit ihrer erfolgreichen Kandidatur hatte Kipping Bartsch den
       Weg an die Parteispitze verbaut.
       
       Bartsch verzieh Kipping nie.
       
       Der Fraktionsvorsitz wäre für Kipping eigentlich der nächste logische
       Schritt gewesen. Doch Bartsch, inzwischen selbst Fraktionschef, sorgte
       dafür, dass Kippings Hoffnungen auf den Posten sich nicht erfüllten. Sein
       in der Fraktion geschmiedetes Mehrheitsbündnis aus Pragmatikern und
       orthodoxen Linken, intern als Hufeisen bezeichnet, wählte 2019 die
       weitgehend unbekannte Amira Mohamed Ali zur Ko-Fraktionsvorsitzenden. An
       der Konstellation hat sich bis heute nichts geändert.
       
       Als sich der Berliner Kultursenator Klaus Lederer im November 2021 mit
       Kipping zum Frühstück traf und ihr den Posten als Senatorin anbot, musste
       sie nicht lange überlegen. Nach 16 Jahren verließ sie den Bundestag.
       
       „Es war Zeit, dass sie ihre viele Facharbeit endlich mal in die Praxis
       einfließen lässt.“ Johanna Bussemer von der parteinnahen
       Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet seit Jahren mit Kipping zusammen. Sie sind
       auch befreundet. Was Bussemer über die Politikerin Katja Kipping erzählt,
       deckt sich mit dem, was andere berichten: Fleißig und diszipliniert sei
       Kipping, extrem gut strukturiert und zielstrebig.
       
       „Sie hat schon immer ein ziemliches Tempo vorgelegt“, erinnert sich ihr
       langjähriger Ko-Vorsitzender Bernd Riexinger an die ersten Monate mit
       Kipping an der Parteispitze. Kipping war schon als sächsische
       Landespolitikerin eine, die selbst nach einer Party im Morgengrauen
       aufstand und zum Bahnhof fuhr, um am anderen Ende der Republik einen
       Vortrag zum bedingungslosen Grundeinkommen zu halten. Vor einem Häuflein
       Zuhörer:innen. So erzählt es ein ehemaliger Mitstreiter.
       
       Als Sozialpolitikerin hatte sie sich auch im Bundestag über Parteigrenzen
       hinweg einen guten Ruf erworben. Martin Pätzold, arbeitsmarktpolitischer
       Sprecher der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, hat mit Kipping von 2013 bis
       2017 im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales gesessen.
       
       Damals waren die Rollen vertauscht – Pätzold gehörte zur
       Regierungsfraktion, Kipping zur Opposition. Dennoch habe man sachlich und
       auch auf menschlicher Ebene gut zusammengearbeitet, erzählt Pätzold. „Ich
       teile ihre Sichtweise zwar nicht, habe aber persönlich Respekt vor ihrem
       Engagement.“
       
       Nur in der Linkspartei wollten manche das partout anders sehen. Im
       parteiinternen Streit zwischen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht
       und der Parteivorsitzenden Katja Kipping etikettierten die Anhängerinnen
       Wagenknechts Kipping als Lifestyle-Linke, die verantwortlich dafür sei,
       dass sich die Linke angeblich nicht mehr um soziale Themen kümmere. Der
       Cicero bezeichnete Kipping noch im Dezember als „Exponentin einer Strömung,
       die auf postmoderne Orientierung der Linken setze, mit Gender- und
       Lifestylethemen.“
       
       Hinter der personalisierten Auseinandersetzung zwischen zwei
       selbstbewussten Frauen steckte in Wirklichkeit ein knallharter
       Richtungsstreit. Wagenknecht wirbt für ein „linkskonservatives Programm“,
       für eine Linke, die sich auf soziale Fragen innerhalb nationalstaatlicher
       Grenzen konzentriert. Eine Art Retro-Linke also, die sich der von der
       Ampelregierung verbreiteten Modernisierungseuphorie entgegenstemmt. Die EU
       ist Wagenknecht suspekt, ebenso wie nach Europa strebende Migrant:innen.
       
       Ein Ansatz, den Kipping für brandgefährlich hält. Gemeinsam mit Riexinger
       arbeitete sie als Parteivorsitzende daran, die Ex-PDS und
       Anti-Hartz-IV-Partei ins 21. Jahrhundert zu hieven. Nur „als
       ‚sozialrebellischer Arm‘ eines Green New Deal“ habe die Linke eine Chance,
       heißt es in einem von Kipping mitverfassten Aufsatz vom Herbst.
       
       Dass dieser Weg der erfolgversprechendere sein könnte, deutet sich bei der
       Mitgliedschaft an, wo in den vergangenen 10 Jahren ein Generationenwechsel
       stattfand. Fast die Hälfte der 60.000 Mitglieder starb, jüngere füllten die
       Reihen, vor allem in den westlichen Bundesländern und den Großstädten. Ende
       des Jahres waren 30 Prozent der Linken-Mitglieder unter 30 Jahre alt. Für
       ein Zurück-in-die-90er-Programm lassen sie sich nicht begeistern.
       
       Doch auch mit dem Abtritt der beiden Antagonistinnen Wagenknecht und
       Kipping als Partei- und Fraktionschefinnen geht der Kampf um die
       Diskurshoheit in der Linken weiter. In einem in dieser Woche
       veröffentlichten Aufruf für eine Populäre Linke, den auch Wagenknecht
       unterzeichnete, heißt es, man dürfe sich nicht auf bestimmte Milieus
       verengen, müsse auch Menschen erreichen, für die Arbeit und Familie
       wichtiger seien als politischer Aktivismus.
       
       In die theoretischen Kämpfe ihrer Partei mischt sich Kipping nicht mehr
       ein. Sie muss sich jetzt um praktische Dinge kümmern. Etwa die Frage, ob
       das Ausbildungshotel am Tierpark nicht auch ein Modell sein könnte für die
       von ihr favorisierte Ausbildungsabgabe, die der CDUler Pätzold
       „Zwangsumlage“ nennt.
       
       ## Kipping wird nicht zum Parteitag fahren
       
       Die Direktorin des Hotel, eine kleine, drahtige Frau im Jeanskleid, führt
       Kipping erst in die Lehrküche, dann in den Schulungsraum. Kipping unterhält
       sich mit den Ausbildern und zwei Azubis und probiert ein
       Rote-Beete-Häppchen. „Was erwarten Sie von der Politik?“, fragt sie und
       macht sich auf einem Schreibblock Notizen.
       
       „Das hier ist gelebte Politik, die Jugendlichen sehen doch, dass die
       Politik mal anpackt und hilft“, sagt der Ausbildungsleiter und schaut die
       beiden Azubis, zwei Jungs im Teenageralter, auffordernd an. Die nicken. Als
       ihre Restaurants ihnen kündigten, fungierte das Tierparkhotel als
       Notlösung. Inzwischen stellen die Betriebe zwar wieder ein, aber sie wollen
       die Ausbildung trotzdem hier beenden.
       
       „Ist viel besser als den ganzen Tag Burger braten“, meint der eine.
       
       Ob das Hotel die Auswirkungen des Ukrainekriegs zu spüren bekomme, will
       Kipping wissen. „Aber hallo, wir haben hier extreme Preiserhöhungen, dit is
       nicht mehr lustig“, meint die Direktorin. Man wisse gerade nicht, welche
       Herausforderung die größere sei – das fehlende Personal oder die steigenden
       Preise. Sie verabschiedet sich mit festem Händedruck und blickt zu Kipping,
       die noch im Gespräch ist. „Die Frau Kipping, die ist schon eine gestandene
       Frau. Die soll mal in ihrer Partei aufräumen. Tut einem ja in der Seele
       weh, was die Linke da treibt.“
       
       Aber darum müssen sich nun andere kümmern. Kipping wird auch nicht zum
       Parteitag fahren. Sie werde ihn über einen Online-Stream aus der Ferne
       verfolgen. Und wie sieht sie die Zukunft ihrer Partei? Kipping holt Luft.
       Dann sagt sie leise auf Russisch: „Nadeshda umirajet posledni.“ Das heißt:
       Die Hoffnung stirbt zuletzt.
       
       4 Jun 2022
       
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       Nach vier Monaten Krieg ist die Luft raus: Die Freiwilligen an Berlins
       Bahnhöfen brauchen mehr Spenden und Helfer. Ein Besuch beim Hygienestand.
       
   DIR Janis Ehling über die Linkspartei: „Wir haben einen großen Umbruch“
       
       Die Linkspartei habe „kein Recht, sich selbst aufzugeben“, sagt Janis
       Ehling. Der 36-jährige Ostberliner will ihr neuer Bundesgeschäftsführer
       werden.
       
   DIR Vor dem Bundesparteitag: Wechsel im Linken-Maschinenraum
       
       Auf dem Parteitag Ende Juni wird Jörg Schindler nicht wieder als
       Bundesgeschäftsführer kandidieren. Janis Ehling möchte sein Nachfolger
       werden.
       
   DIR Diskriminierung von Geflüchteten: Schutz und Vorurteil
       
       Während Berlin die ukrainischen Geflüchteten vor Ausbeutung schützen will,
       ergreift der Bund repressive Maßnahmen. Ein Wochenkommentar.
       
   DIR Ukraine-Geflüchtete in Berlin: Lieber hungern als nach Tegel
       
       Viele Ukrainer*innen meiden die Anmeldung aus Angst Berlin verlassen zu
       müssen, sagen Ehrenamtliche. Neue Anlaufstelle gibt praktische Hilfe.
       
   DIR Debatte zum 1. Mai im Abgeordnetenhaus: Grüne beim Rumeiern erwischt
       
       Aus SPD-Sicht distanzieren sich die Grünen nicht ausreichend von dem
       Angriff auf Regierungschefin Franziska Giffey (SPD).