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       # taz.de -- Gesundheit ist kein Verdienst: Die Lagerfeld-Lüge
       
       > Als Mutter zweier pflegebedürftiger Kinder weiß ich, dass sich das Leben
       > nicht kontrollieren lässt. Auch wenn manche Leute etwas anderes
       > behaupten.
       
   IMG Bild: Irre Vorstellung, dass sich das Leben kontrollieren ließe – Jogginghose hin oder her
       
       Karl Lagerfeld wird mit dem Satz zitiert „Wer eine Jogginghose trägt, hat
       die Kontrolle über sein Leben verloren“. Daran muss ich denken, wenn ich um
       5.55 Uhr im Wohnzimmer von der Matratze neben dem Pflegebett meiner Tochter
       aufstehe und mir eine Jogginghose anziehe, um ein Stockwerk höher meinen
       Sohn Willi aus seinem Pflegebett zu holen und ihn möglichst leise für die
       Schule fertig zu machen. Seit Olivia krank ist, darf er im Bett
       frühstücken. Das findet er super. So wie Jogginghosen. Nicht nur, weil sie
       so gemütlich sind, sondern weil er sie selbstständig an- und ausziehen
       kann.
       
       Ich gehe davon aus, dass [1][Karl Lagerfeld] nie ein schwer krankes oder
       schwerbehindertes Kind gepflegt hat. Im Prinzip ist es mir völlig egal, was
       irgendwer über Hosen sagt. Was mich an dem Ausspruch schockiert, ist der
       Glauben, man könne das Leben kontrollieren.
       
       Mit der Annahme, Schönheit, Wohlstand und natürlich Gesundheit seien
       Verdienste, für die man nur hart genug arbeiten müsse, kann man wunderbar
       die Probleme anderer von sich fernhalten. Man erklärt kurzerhand kranke
       Menschen für selbst verantwortlich.
       
       Und bei Kindern sind wahrscheinlich die Eltern „schuld“. Als Mutter eines
       Kindes mit [2][Down-Syndrom] ist mir oft unterschwellig der Vorwurf gemacht
       worden, mich selbst für die Behinderung entschieden zu haben. Ich hätte
       „das“ ja in der Schwangerschaft testen lassen können. Doch schon vor 15
       Jahren wusste ich, dass nichts und niemand uns ein unbehindertes oder
       gesundes Baby garantieren kann. Ich hatte das sichere Gefühl, dass die
       Abtreibung unseres Wunschkindes sich nicht nur auf meine Partnerschaft,
       sondern auf mein ganzes weiteres Leben und sogar noch auf das Leben eines
       weiteren Kindes auswirken würde.
       
       ## Was zählt ist bedingungslose Liebe
       
       Wie wäre es für unsere Tochter Olivia, wenn sie wüsste, dass ein
       behindertes Kind für uns nicht in Frage gekommen wäre? Seit sie [3][an
       Long-Covid erkrankt ist], ist sie körperlich schwerer beeinträchtigt als
       ihr großer Bruder. Sie ist komplett bettlägerig. Sie kann sich nicht einmal
       eine Jogginghose selber hochziehen, geschweige denn die Zahnbürste halten.
       An guten Tagen muss ich sie nicht füttern und sie hat Kraft im Liegen etwas
       Kleines zu basteln. Das war’s. Sie ist 13.
       
       Wir hätten sehr gerne eine psychologische Begleitung für sie, aber bis
       jetzt scheinen alle lieber Diagnosen zu verteilen, als ein [4][praktisches
       Hilfsangebot] zu machen. Wenn ich ein Gespräch mit einer
       Krankenhauspsychologin habe, achte ich übrigens darauf, eine ordentliche
       Hose zu tragen. Olivia hat ja einen schwerbehinderten Bruder, da muss man
       so tun, als hätte man etwas Kontrolle übers Leben. Denn die
       Psycho-Schublade steht bei jeder Familie, die etwas neben der Norm läuft –
       ob Patchwork, Fluchterfahrung, kranke Eltern oder gleichgeschlechtliche
       Beziehungen – weit offen.
       
       Dabei könnte man auch auf uns schauen und denken: Wo ein Kind mit einer
       „vermeidbaren“ Behinderung ist, wird bedingungslose Liebe sein – der
       wichtigste Baustein für eine gesunde Entwicklung. Olivia ist nicht trotz,
       sondern wegen ihrer Familie ein so großartiges, soziales und starkes
       Mädchen. Dass wir alle zurzeit psychisch belastet sind, könnte ja auch an
       den fünf Monaten schwerer Krankheit ohne Behandlungsperspektive liegen.
       
       Und noch mal zum Thema Kontrolle: Als ich neulich mit Olivia im Krankenhaus
       war, hat mein Mann Willi in seiner neuen Schlafanzughose in die Schule
       geschickt. DAS nenne ich Kontrollverlust! Und wissen Sie was: Es hat Willi
       nicht geschadet!
       
       11 Jun 2022
       
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