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       # taz.de -- Zweifeln im Alltag: Alles zu viel und nichts genug
       
       > Unsere Kolumnistin findet, dass es hier gefährlich ist. Nicht so sehr auf
       > der Mauer, mehr in Gedanken.
       
   IMG Bild: Eine gute Idee, die Beine über dem Abgrund baumeln zu lassen
       
       Ich hab Lust, auf das Mäuerchen zu klettern und meine Beine über dem
       Abgrund baumeln zu lassen und dem Himmel dabei zuzusehen, wie er pink
       wird“, sagst du, und ich halte das für eine gute Idee. Also klettern wir
       und lassen baumeln und sehen zu. Es ist schön. Du fragst, was ich denke,
       „Ich suche dieses Gefühl“, sage ich, „diese Unruhe, die uns alle
       verbindet.“ Ein paar Schritte weiter machen Leute Selfies vor dem
       Sonnenuntergang.
       
       Du fragst, was ich genau meine, ich wüsste das auch gern. Es fängt damit
       an, dass wir alle ständig das Gleiche tun: Augen auf, aufstehen, anziehen,
       eine Tasche packen, arbeiten, einkaufen, Kühlschranktür auf und wieder zu,
       jemanden treffen und sagen, dass es schon okay geht, eine Zigarette
       rauchen, besprechen, wie kaputt alles ist – alles, aktuell: [1][der Krieg],
       die Kriege, das Klima, die Waffengeschäfte, die Inflation –, fragen, wie
       das Kaputte repariert werden könnte und antworten, dass wir das heute Abend
       nicht mehr lösen werden und sowieso so erschöpft sind, seufzen, umarmen,
       nach Hause, ausziehen, hinlegen, die Blumen am Bett mögen, Augen zu. Und es
       hört auf mit: Wollen wir das so?
       
       Wir beten uns vor, dass wir uns strecken müssen, nach den besseren
       Kirschen. Wir haben das so gelernt. Dann wird’s schon werden, dann ist es
       am Ende genug. Besserer Job, bessere Wohnung, [2][besseres Outfit], bessere
       Beziehung. Aber: Wir strecken uns, wir klemmen uns einen Nerv ein, wir
       kriegen die Kirschen und trotzdem geht diese Unruhe einfach nicht weg.
       Alles ist zu viel, nichts ist genug. Ja. Und dann?
       
       Du legst den Arm um mich und wir fühlen uns schrecklich verloren, dabei
       waren wir doch überzeugt, das hätte sich mit der Pubertät erledigt. Hat es
       aber nicht, obwohl wir heute besser wissen, wer wir sind: Leute, die nicht
       an Rente denken können, ohne zu googeln, welche Teile der Welt von Wasser
       verschluckt sein werden, wenn wir uns irgendwann nicht mehr gut bücken
       können. Leute, die auf einem Mäuerchen sitzen und das Wetter mit „im
       Schatten ist es schon noch etwas kühl“ kommentieren. Wir schauen auf unsere
       Füße und sind ratlos.
       
       Ich finde, dass es hier gefährlich ist. Nicht so sehr auf der Mauer, mehr
       in Gedanken. Gefährlich nahe am Erstarren, an Zynismus und an Hilflosigkeit
       – an diesem Kann-man-nichts-Machen, über das wir uns bei anderen so
       aufregen.
       
       Ich sage: „Manchmal frage ich mich, was wir hier eigentlich machen. Also –
       wofür?“ und du zuckst innerlich mit den Schultern. Draußen bewegst du dich
       nicht. Du willst mutig sein, weil immer jemand von uns [3][mutig bleiben]
       muss, im Kleinen und im Großen. Deswegen zuckst du nicht, deswegen traust
       du dich, eine Antwort zu haben, deswegen sagst du: „Für das. Für das
       Zweifeln und Infragestellen und nicht damit aufhören. Fürs Unruhigsein,
       weil nichts mehr ruhig ist. Bis uns auffällt, dass wir das so nicht mehr
       wollen, und uns einfällt, was die Alternative sein soll. Und wir dann mehr
       für sie tun, als reden. Hoffentlich.“
       
       8 Jun 2022
       
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