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       # taz.de -- Nebenwirkung von Medikamenten: Wenn die Lust nachlässt
       
       > Eine Expertin warnt: Jede vierte Sexualstörung geht auf Arzneimittel
       > zurück. Vor allem Psychopharmaka können großen Einfluss auf das
       > Sexualleben haben.
       
   IMG Bild: Mangelnde Libido: Es können auch die Medikamente sein
       
       Der Sex steckt in der Krise. Fast jede dritte Frau berichtet von
       Lustlosigkeit, etwa jede vierte kommt kaum oder gar nicht zum Orgasmus, bei
       den Männern leidet jeder dritte Ü60er unter Erektionsschwäche. Als Ursache
       dieser Sexstörungen werden Hormone, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und nicht
       zuletzt die Psyche diskutiert. Dabei spielt der tägliche Arzneimittelkonsum
       eine mindestens genauso große Rolle.
       
       Experten schätzen, dass rund 25 Prozent aller Sexualstörungen auf
       Medikamente zurückgehen. Besonders auffällig seien in dieser Hinsicht, wie
       die Schweizer Toxikologin und Pharmakologin Antje Heck berichtet, die
       Psychopharmaka. „Aber auch Medikamente, die bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
       eingesetzt werden, spielen eine große Rolle.“
       
       Unter den Psychopharmaka haben vor allem [1][die Antidepressiva] aus der
       Gruppe der sogenannten Selektiven
       [2][Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren] einen großen Einfluss auf das
       Sexualleben. Sie führen bei 60 bis 70 Prozent der Patienten und
       Patientinnen zu sexuellen Funktionsstörungen. „Ich kann mich da noch an die
       Mail einer depressiven Patientin erinnern, die sich bei mir bedankt hat“,
       berichtet Heck, die als Oberärztin an der Psychiatrischen Klinik in
       Königsfelden arbeitet. „Es würde ihr wieder richtig gut gehen und ihre
       Stimmung sei viel stabiler geworden. Doch ihr Mann, der sei nun leider
       total traurig. Und der Grund war, dass seine Frau keine Lust mehr auf Sex
       hatte.“
       
       Glücklicherweise fand Heck jedoch eine Lösung für das Problem. Die Frau
       wurde auf ein Antidepressivum mit dem Wirkstoff Bupropion umgestellt, der
       den Serotoninhaushalt unbehelligt lässt und dadurch nicht als Lustkiller
       wirkt. „Es kämen aber auch andere Wirkstoffe in Frage, die sogar sexuell
       anregend wirken können“, betont Heck. Man müsse da allerdings wieder
       aufpassen, weil sie beispielsweise zu einem Priapismus, also einer
       Dauererektion beim Mann führen könnten.
       
       Neben Antidepressiva können auch Antipsychotika, die beispielsweise bei
       Schizophrenien und Wahnvorstellungen eingesetzt werden, zu Sexualstörungen
       führen. Und auch hier hat Toxikologin Heck ein Fallbeispiel parat. Nämlich
       einen jungen Mann, der mit Anfang 20 eine Psychose entwickelte: „Er musste
       die Ausbildung abbrechen, ist zu Hause rausgeflogen, sein Leben ging also
       regelrecht bergab.“ Dann kam er in stationäre Behandlung, wo er mit einem
       Antipsychotikum behandelt wurde. Es ging ihm zunächst deutlich besser, doch
       das Mittel führte zu einem Anstieg des Prolaktinwerts, was man sonst eher
       von stillenden Frauen kennt. In der Folge bekam der junge Mann Libido- und
       Erektionsprobleme. Nur dass er der behandelnden Psychiaterin nichts davon
       sagte und stattdessen das Medikament eigenmächtig absetzte, was wiederum
       seine psychotischen Zustände förderte.
       
       ## Medikament ändern
       
       Die Folge war: Jobverlust, abermalige Einweisung in eine Klinik. „Aber dort
       stellte ich ihn dann um auf ein prolaktin-neutrales Antipsychotikum, sodass
       Libido und Erektion nicht mehr beeinträchtigt wurden“, so Heck. Rund sechs
       Wochen später ging es ihm dann auch deutlich besser. Seine Libido war zwar
       noch etwas schwächer, aber die Erektionsprobleme waren weg.
       
       Unter den Schmerzmitteln wirken sich vor allem die Opioide auf das
       Sexualleben aus. Sie führen sehr oft zu Libidoverlust, und bei Männern zu
       60 bis 70 Prozent zu Erektions- und Ejakulationsproblemen. Hier auf ein
       anderes Medikament auszuweichen, ist schwierig. Dazu sind die Opioide für
       die Behandlung von sehr starken Schmerzen, wie etwa bei Krebs und Rheuma,
       einfach zu wichtig.
       
       Da gelte es dann abzuwägen, betont Heck, wie weit die Schmerzhemmung die
       sonstige Lebensqualität beeinträchtigen dürfe. „Vom Zudröhnen der Patienten
       ist man eigentlich weg“, so die Toxikologin, die auch in der
       Schmerztherapie arbeitet. „Der moderne Schmerzpatient ist heute jemand, der
       sagt: die Lebensqualität, also auch die Qualität des Sexlebens ist wichtig,
       und ich habe lieber einen Restschmerz und bin rundum aktiv, als auf diese
       Qualität zu verzichten.“
       
       Und darauf aufbauend werde dann die Dosis der Opioide reduziert. Mit dem
       Wissen, dass dann zwar noch Schmerzen da sind, aber man eben noch am Leben,
       also auch am Sexleben teilhaben kann.
       
       Unter den nicht psychotropen Arzneimitteln fallen vor allem die
       Blutdrucksenker als Ursache von Sexualstörungen auf. Wobei man schon genau
       hinschauen muss. „Wenn ich etwa den typischen Ü60-Patienten mit
       Erektionsproblemen vor mir habe“, betont Heck, „kann es natürlich auch
       sein, dass seine Herz-Kreislauf-Erkrankung selbst, und nicht das dagegen
       eingesetzte Medikament dafür verantwortlich ist.“ Nicht selten sei die
       Erektionsstörung nämlich nur ein Frühwarnsymptom für Gefäßschäden und auch
       Herzinfarkt.
       
       Womit man bei den Beta-Blockern ist, den Standardmedikamenten zur
       Behandlung von Bluthochdruck und anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie
       führen bei den männlichen Patienten oft dazu, dass die zwar noch wollen,
       also die Libido noch da ist, aber sie eben nicht mehr können, weil die
       Erektion gestört ist. Aber es gibt mittlerweile auch Beta-Blocker mit dem
       Wirkstoff Nebivolol, die für eine erhöhte NO-Freisetzung und dadurch für
       eine bessere Durchblutung im kleinen Becken sorgen. „Und man hat noch die
       Möglichkeit, den Bluthochdruck nicht mit Beta-Blockern, sondern etwa mit
       einem AT2-Antagonisten zu behandeln oder Viagra und Co zu addieren“, so
       Heck.
       
       Ein Sexualproblem der besonderen Note können Parkinsonmedikamente mit sich
       bringen. Denn einige davon bewirken gewissermaßen genau das Umgekehrte, von
       dem, was bisher beschrieben wurde. Denn der Parkinsonpatient hat in einem
       bestimmten Bereich des Gehirns – der Substantia nigra – einen Mangel des
       Botenstoffs Dopamin, der auch eine wichtige Rolle für den sexuellen Antrieb
       spielt.
       
       Wenn man ihm nun – wie in der Parkinsontherapie üblich – ein dopaminerges
       Mittel gibt, das zudem noch als Antagonist zum sexuell dämpfenden
       [3][Prolaktin] wirkt, kommt es schnell zur sexuellen Hyperaktivität.
       
       „Aber“, so beruhigt Heck, „das ist nur vorübergehend“. Denn im Laufe der
       Jahre ginge – trotz der Medikamente – nicht nur der Dopaminwert, sondern
       auch der Testosteronpegel nach unten. „Und dann“, so Heck, „erledigt sich
       das Problem mit der Hypersexualität von allein.“
       
       11 Jun 2022
       
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