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       # taz.de -- Buch über die Ikone Wonder Woman: Der Traum vom Matriarchat
       
       > Das Buch über Wonder Woman von Jill Lepore verändert den Blick auf die
       > Superheldin fundamental. Und regt zum Nachdenken über das Matriarchat an.
       
   IMG Bild: William M. Marston beim Herzfrequenztest. Frauen besäßen „die überlegene Liebesmacht“, fand er
       
       Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen – und eine ganze
       Bewegung, um eine Superheldin zu erschaffen. Ohne die Suffragetten und die
       Bewegung zur Geburtenkontrolle würde es [1][Wonder Woman] nicht geben. Ohne
       Gloria Steinem wäre sie wohl nicht als feministische Ikone wiederentdeckt
       worden. Und ohne die Historikerin Jill Lepore und ihr Buch „Die geheime
       Geschichte von Wonder Woman“ wüssten wir heute geradezu nichts über Wonder
       Womans Vater – und ihre sehr, sehr vielen Mütter.
       
       Wonder Woman, wie ihr Erfinder William Moulton Marston sie 1941 erdachte,
       ist eine emphatische Amazone, die für „Freiheit, Demokratie und das
       weibliche Geschlecht“ kämpft, wie es im ersten Comic heißt. Sie befreit
       sich immer wieder aus Ketten, sie ficht soziale Kämpfe aus, wehrt mit ihren
       breiten Armreifen tödliche Kugeln ab – würde aber nie selbst schießen – und
       Heiraten ist für sie ein Albtraum.
       
       Als Marston die Idee zu Wonder Woman mitten im Zweiten Weltkrieg
       entwickelt, lebt er mit drei Frauen und vier Kindern in einem New Yorker
       Vorort. Ihr Haus benennen sie nach Anton Tschechows Stück „Der
       Kirschgarten“: Cherry Orchard. Eine der Frauen ist Sadie Elizabeth
       Holloway, Marstons Ehefrau. Sie kam von der Isle of Man und ihre
       Lieblingsautorin ist Sappho. Wonder Woman kommt von der Paradiesinsel und
       ruft nach Holloways Vorgabe „Leidende Sappho!“, statt „Bei Vulkans Hammer!“
       aus.
       
       Holloway und Marston werden in der achten Klasse ein Paar und teilen sich
       fortan als Team das Leben, die Arbeit und die Liebe. Zuerst stößt Marjorie
       Wilkes Huntley zu dem Ehepaar Marston, sie werden laut eigener Aussage zu
       einem Trio. Die dritte Frau in Cherry Orchard ist Olive Byrne, eine
       ehemalige Studentin von Marston. Sie lebt unter der Bedingung bei den
       Marstons, dass sie die Kinder von Marston und Holloway großzieht, damit
       Holloway, die Ehefrau, weiter arbeiten gehen kann. Was sie tut und
       zeitweise für alle im Haus das Geld verdient.
       
       ## Kind und Karriere
       
       Die Vereinbarkeit von Karriere und Kindern war schon vor 100 Jahren eines
       der bestimmenden Themen in den Debatten über die Emanzipation der Frauen –
       bis heute ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Holloway hatte ihren Weg
       gefunden, damit umzugehen. Olive Byrne liebte die Kinder der Marstons und
       bekam von William Marston selbst noch zwei.
       
       Olive Byrne ist die Nichte von Margaret Sanger, eine der bis heute
       wichtigsten Feministinnen der USA. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ethel
       Byrne, deren Tochter Olive Byrne war, gründete Sanger 1916 in Brooklyn die
       weltweit erste Beratungsstelle zur Geburtenkontrolle.
       
       Die Bezeichnung „birth control“ kommt von Sanger, die Organisation Planned
       Parenthood geht auf die von ihr gegründete American Birth Control League
       zurück und ihr Buch „Woman and the New Race“ von 1920 ist ein zentraler
       ideeller Grundpfeiler von Wonder Woman.
       
       ## Der Spur in die Geschichte folgen
       
       Es ist diese Verbindung zwischen William Moulton Marston und Margaret
       Sanger, die der Historikerin Jill Lepore auffiel, als sie zur Geschichte
       von Planned Parenthood recherchierte. Die Harvardprofessorin folgte dieser
       Spur. Entstanden ist ein über 400 Seiten dickes Buch, das aufgrund der
       vielen Verzweigungen manchmal etwas verwirrt, aber vor allem ist „Die
       geheime Geschichte von Wonder Woman“ eine atemraubende und anregende
       Kulturgeschichte.
       
       In den USA erschien das Buch bereits 2014, in Deutschland führte der Verlag
       C. H. Beck die Autorin Lepore, Staff Writer des New Yorker, zunächst mit
       ihrer Geschichte der USA „Diese Wahrheiten“ ein. Den Deutschen ohne
       Comickultur muss man wohl erst zeigen, dass die Autorin von „Die geheime
       Geschichte von Wonder Woman“ auch seriös ist. Hier halten Intellektuelle
       Popkultur noch immer allzu häufig für Schmuddelkram.
       
       Dieses Buch über eine Superheldin und ihren Erschaffer ist jedenfalls
       bahnbrechend. Es zeigt, wie ein Mann eine fortschrittliche Frauenfigur
       erfunden hat und sich regelrecht nach dem Matriarchat gesehnt hat.
       
       Der Jurist und Psychologe William Moulton Marston war so etwas wie ein
       lebensweltlicher Wissenschafts-Hallodri. Er promovierte in Harvard.
       Nebenbei jobbte er schon für die Filmindustrie, schrieb Drehbücher für den
       Stummfilm. Seine größte Leidenschaft entwickelte er für das Aufdecken von
       Emotionen. Zusammen mit seiner Frau Holloway erfand er den Lügendetektor.
       
       ## Er liebte die Frauen
       
       Sein restliches Leben versuchte Marston zunächst den Detektor als
       Beweisführungsmittel in Gerichtsprozessen zu etablieren. Später setzte er
       ihn für alle möglichen Zwecke ein. Zum Beispiel, um als Psychologe bei
       Universal zu testen, wie das Publikum auf Liebesszenen reagiert. Oder um zu
       beweisen, dass brünette Damen leichter zu erregen seien als blonde.
       
       Marston liebte die Frauen. Er fand Frauen einfach besser als Männer, weil
       sie nicht dominieren wollen würden. Sie besäßen „die überlegene
       Liebesmacht“. Bei einer Pressekonferenz im Jahr 1937 sagte er voraus, dass
       Frauen einmal die Weltherrschaft haben würden – allerdings erst in 1.000
       Jahren. Das Matriarchat war für ihn eine positive Vorstellung. Er wuchs mit
       fünf Schwestern auf.
       
       Wonder Woman ist komplett dem male gaze entsprungen, dem männlichen Blick –
       ein Gutteil von ihrer Inszenierung ist eine Sexfantasie. Das Wahrheitslasso
       etwa erinnert einerseits an Marstons Lügendetektor, aber eben auch an
       Bondageseile. Überhaupt wurde Wonder Woman immer wieder gefesselt und hat
       insgesamt kaum etwas an. Ihre optischen Vorbilder sind die Pin-up-Girls der
       1930er Jahre.
       
       In den 1940ern stießen sich deshalb die Sittenwächter an Wonder Woman, die
       außerdem als lesbisches Pendant zu Batman galt. Dass diese Darstellungen
       schädlich wären, glaubte Marston nicht. Er begrüßte jede Form von
       Sexualität und schrieb darüber 1928 in seinem Buch „Emotions of Normal
       People“.
       
       ## Deutungskämpfe um Wonder Woman
       
       Weniger fortschrittlich waren die Darstellung von
       Afroamerikaner*innen oder Mexikaner*innen in Wonder Woman.
       Lepore bezeichnet diese als gespickt mit dem „handelsüblichen Rassismus“
       der damaligen Zeit.
       
       1947 stirbt Marston, Wonder Woman wird von einem konservativen
       Comiczeichner übernommen und domestiziert. Als feministische Ikone belebt
       [2][Gloria Steinem] 1972 Wonder Woman wieder, packt sie auf die Titelseite
       der ersten Ausgabe von Ms. Betty Friedan („Der Weiblichkeitswahn“), warf
       Steinem allerdings vor, sie würde von allen Frauen fordern, Superfrauen zu
       sein.
       
       Die feministischen Redstockings warfen der Comicfigur vor, zu
       kapitalistisch zu sein, Erfolg würde zu sehr individualisiert – und Steinem
       sei eine CIA-Agentin.
       
       Steinem hatte als Kind selbst Wonder-Woman-Comics gelesen. In den 1940er
       Jahren ist Wonder Woman so berühmt wie Batman und Superman. Ein
       Millionenpublikum liest die Geschichten von dieser Superfrau – und den
       „echten“ Superfrauen wie Sojourner Truth, Susan B. Anthony oder Jeanne
       d’Arc, die ab 1942 auf vier Seiten in jedem Heft vorgestellt werden.
       
       ## Zum politischen Kern vordringen
       
       Jill Lepore legt mit „Die geheime Geschichte von Wonder Woman“ den
       politischen Kern der Amazone frei und regt Fragen an wie: Wie würde eine
       moderne Superheldin aussehen? Wen würde sie schützen? Was wären ihre
       Kämpfe? Und vor allem: Mit welchem Ziel?
       
       Marston wollte immer das Matriarchat. Diese Utopie teilte er mit Charlotte
       Perkins Gilman. [3][Ihr Roman „HerLand“] von 1915, ein feministischer
       Einfluss von Wonder Woman, feiert weibliche Stärke. Heute scheint das aus
       der Mode gekommen zu sein. Politikerinnen tragen offen in die Welt, dass
       sie Familie und Beruf nicht gleichermaßen wuppen können, Musikerinnen
       vertonen ihre Depression.
       
       Es ist toll, dass die Popkultur mittlerweile voll ist von
       unterschiedlichsten Frauendarstellungen. Es gibt Slackerinnen und
       Superfrauen. Aber die Utopie ist irgendwie nicht zu greifen. Das
       Matriarchat hat da eine erfrischende Klarheit.
       
       10 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Gottschalk
       
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