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       # taz.de -- Die Autobahn: Das Band des Grauens
       
       > Ein Versuch, die Schönheit der Autobahn als etwas Vergangenes zu
       > entdecken. Am Beispiel von Asterix und Obelix.
       
   IMG Bild: A9, Schnaittach: Wäldchen zwischen Autobahntrassen
       
       Im zweiten großen Asterix-Abenteuer, „Die Goldene Sichel“, gibt es ein
       Panel, in dem die beiden Gallier am [1][Pont du Gard] vorbeigehen, dem
       riesengroßen südfranzösischen Aquädukt, der gerade gebaut wird. Und zornig
       erklärt der kleine Krieger, dass die Römer mit ihren Bauwerken die ganze
       Landschaft verschandeln.
       
       Weil er so gut ist, haben René Goscinny und Albert Uderzo damals für den
       Witz Chronologie und Topografie außer Kraft gesetzt: Die
       Landschaftszerstörung durch andere Großbauwerke, über deren Brücken nun die
       Autos fuhren, wurde in den frühen 1960ern mehr und mehr verurteilt. Und die
       Verschandelung der Römerzeit ist uns heute ein Weltkulturerbe,
       bewundernswert und ja, doch, schön. Mit diesem Blick, der ihre Schönheit
       wahrnehmen kann, müssen wir lernen, neu auf die Autobahn zu schauen.
       
       Zu behaupten, Autobahnen wären schön, hat etwas Provokatives, und das wird
       immer gern genommen. Oft geht es dabei leider wirklich nur um diesen
       Effekt, und statt einen neuen Blick auf sie zu erproben, fassen jene, die
       dieser Schönheit das Wort reden, sie bloß in einem konventionellen Sinn
       auf. Heißt: Sie erliegen der Faszination des Gesamtkunstwerks Autobahn, das
       tatsächlich die Nazis erfunden haben: „Das graue Band“ war ihre
       Lieblingsbezeichnung für die Schose.
       
       Denn, während es in der Weimarer Republik Schnellstraßen-Einzelprojekte
       gab, geht es dort um ein System, um ein übers gesamte Land gelegtes Netz,
       das nach den ästhetischen Prinzipien einer organischen Moderne eine
       Verschmelzung von neuester Technik und der Natur der heimatlichen Gauen
       vorspiegeln sollte. Es dient der Durchideologisierung des Landes: „Uniforme
       und individuelle Komponenten wurden sorgfältig kombiniert“, schreibt der
       Historiker Frank Becker. Die regionale Besonderheit trägt ihren Teil zur
       Einheit bei, mit dem das „graue Band“ das Reich zusammenbringt.
       
       Diese Faszination, diese Freude an gigantischen in die Landschaft
       eingeschmiegten Betonpfeilerkonstruktionen, ist im Grunde
       präautomobil. Sie leitet sich noch aus einer in der Renaissance
       entwickelten Ästhetik her, die Straßen als erhabenes artifizielles Ereignis
       in der Landschaft bewundert: Wege zur Schönheit. Diese Vorstellung ändert
       sich nach dem Zweiten Weltkrieg: Architekturhistoriker Éric Alonzo sieht da
       eine [2][„pensée fonctionnaliste“] am Werk, ein funktionalistisches Denken,
       das „beginnt, das Schöne und das Nützliche, das Angenehme und das
       Funktionelle voneinander zu trennen und die Straße von der Route zu
       unterscheiden“. Dafür gibt es sicher Anhaltspunkte. Wichtiger scheint aber,
       dass die Perspektive wechselt und fortan aus dem Inneren der Maschine, als
       die Fahrbahn, Auto und dessen Insassen zusammenspielen, auf eine Welt
       geschaut wird, die aufs Auge zustürmt – oder, für Kinder, die aus dem
       Heckfenster schauen, sich ihm entzieht – und es überfordert: Sie fließt in
       Geschwindigkeit zusammen. Ihre Konturen lösen sich auf.
       
       Als Dromoskopie hat der französische Philosoph [3][Paul Virilio] diese Art
       des Bewegtbilds bezeichnet, ein wahnsinnig monotones Kino mit den
       Fahrer*innen als Regisseur*innen ihres vermeintlich eigenen, aber
       vom Bau allen gleichermaßen vorgegebenen, tödlich langweiligen Films. Jetzt
       bloß nicht einschlafen! Und erstaunlicherweise werden von diesem Schwinden
       auch und sogar am nachhaltigsten die Orte erfasst, die in der Nähe liegen,
       aber nicht angeschlossen sind. In ihren Highway-Poems hat die amerikanische
       Lyrikerin Lisel Mueller Anfang der 1970er dieses entstehenden Schattenreich
       erfasst: „The town is dying / its blood being pumped into the new
       expressway“, durch die Umdeutung einer Lieblingsmetapher der Logistik macht
       sie die Autobahn zu einem abstrakten, unpersönlichen Vampir. Und jene, die
       in dieser sterbenden Stadt zurückbleiben, traurig und wundersam, sind
       „transfigured by extinction“, verklärt durch die Auslöschung. Sie können
       in jedem Stephen-King-Roman mitspielen. Und sie tun es auch.
       
       Paul Virilio hatte keinen Weg gesehen, dem dromoskopischen Blick und seiner
       eingebauten Temposteigerung bis zur Katastrophe, bis zum Crash je wieder zu
       entrinnen, aber vermutlich hat er sich geirrt: Die Zeichen mehren sich,
       dass ein neuer Blick die Autobahn bereits als Vergangenes zu sehen lernt,
       als Ruine – noch während eine fehlgeleitete Verkehrspolitik weiter an ihren
       Teilabschnitten bauen lässt. Es ist nicht gesagt, dass wir das wirklich
       erleben: Vielleicht wird die FDP am Ende gewinnen und mit schrankenlosem
       Tempo die Zukunft verbauen. Aber nicht mehr beseitigen kann sie die
       Vorstellung, wie die Autobahn ihren Reiz als Bühne einer Apokalypse
       entfaltet.
       
       Denn diese Vorstellung ist ja in die Wirklichkeit getreten, zuerst
       selbstverständlich als Fiktion. Eine überwältigende Bildformel für diese
       neue postautomobile Schönheit der Autobahn hatte schon die vor zehn Jahren
       gestartete [4][TV-Serie „The Walking Dead“] gefunden: Vermutlich hält genau
       das Zukunftsversprechen dieses Bilds die Serie, die rasch auserzählt war –
       es geht darum, dass fast alle Menschen Zombies sind und die anderen durch
       die Gegend ziehen und sie abknallen, um nicht von ihnen gefressen zu werden
       – über mittlerweile elf Staffeln am Laufen.
       
       Zu sehen ist ein einsamer Mensch, der auf dem Rücken eines Pferds, von den
       Betrachter*innen weg, einen zehnspurigen Motorway entlang auf die
       banale Skyline von Atlanta zureitet. Das Pferd, es ist ein Fuchs, strahlt
       Gelassenheit aus, man sieht auch im Still, dass es sich im Schritt bewegt,
       und zwar auf der vierten Spur, ganz allein auf der leeren Fahrbahn. In der
       Gegenrichtung jedoch ist der Stau auf allen Streifen erstarrt: Eine
       Karambolage ist angedeutet, aber die ist viel zu klein, um diesen
       vollkommenen Stillstand zu erklären. Die Autos wirken eher, als wären sie
       da geparkt, lang, lang ist’s her, geparkt, vergessen und inzwischen
       eingestaubt, in einer Zeit weit vor der Epoche dieses doch erkennbar
       archaischen Lonesome Riders, der nun an ihnen vorbeizieht, als wären sie
       nicht bemerkenswerter als irgendein vertrockneter Kaktus in der Wüste.
       Herrlich.
       
       Schon aber sind es nicht mehr bloß Fiktionen, die sich der Gewalt der
       gebauten Inszenierung widersetzen. Die Gegenwart der
       Kraftfahrzeugschnellstraße mit getrennten Fahrbahnen in beide Richtungen
       entdeckt Dokumentarfotografie seit ein paar Jahren als eine Vorgeschichte
       jener Zukunft, die visionär überhöht und mit Angstlust aufgeladen in den
       Horrorstorys aufscheint: Diesen Blickwandel erzwungen haben Ereignisse wie
       der [5][Einsturz von Tribsees], der Teile der Ostseeautobahn im Herbst 2017
       in eine Kraterlandschaft verwandelt hatte, oder der Zusammenbruch des
       [6][Flyovers von Genua im Sommer drauf]: 40 Menschen starben.
       
       Etwa 400 Tote pro Jahr gibt es auf deutschen Autobahnen. Die unmittelbaren
       Folgen dieser extremen Grausamkeit, die Autobahn bedeutet, hat Michael
       Tewes wie eine Gedenkkerze für die Opfer in einer einzigen Aufnahme seines
       gerade erschienenen Bildbands „Auto Land Scape“ festgehalten, der zugleich
       als Katalog seiner gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Museum München
       fungiert: ein Wrack, dem jede Tiefe im Crash verloren gegangen ist, eine
       gesplitterte Windschutzscheibe, Motorschläuche, ausgelöste Airbags, alles
       in einem Blechknäuel zusammengepresst.
       
       Die übrigen Bilder seiner im Laufe von sechs Jahren entstandenen Serie sind
       nicht weniger, aber viel mittelbarer gewalthaltig: Radikaler als ein Jahr
       zuvor Ostkreuz-Fotograf Jörg Brüggemann in seinem unschlagbar eingängig
       „Autobahn“ betitelten Band versagt sich Tewes aller Autobahnnostalgie
       (obwohl er sie hippiesk per VW-Bully erkundet hat) und vermeidet alle
       mitreißende Dynamik: In Symmetrie erstarrt begegnen einander zwei
       identische Lastwagen. Zufälle, Anekdotisches, Menschen gar, die bei
       Brüggemann mal am Rand der Route baden, mal sich im Stau aus ihrem
       Blechgehäuse auf die Fahrbahn wagen oder mal in einer Gruppe im Gänsemarsch
       an der Leitplanke entlanggehen, zeigt Tewes gar nicht: Zwar, zwei kommen
       vor, aber nur so gerade eben, auf der Schwelle zur Sichtbarkeit, als
       winzige Punkte, gesichtslos, verschmolzen mit der Wand der Baugrube, in der
       sie zusammen arbeiten.
       
       Auf den besten Bildern haben noch nicht einmal Autos einen Auftritt. Im
       eiskalten Licht der frühen Morgenstunden liegt dann nur das Band des
       Grauens da, dessen Hauptprodukt die „Unverbundenheit zum Ort“ zu sein
       scheint, die Michael Tewes als Gegenstand seiner Arbeit bestimmt hat. Wie
       eine stille Rächerin aber greift die Landschaft die Straße an, die sich ihr
       entziehen will, zerstört sie, von den Rändern her, verursacht Risse im
       Beton, besiedelt sie, frisst sie auf. Und das ist schön.
       
       14 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.pontdugard.fr/de
   DIR [2] https://www.roaditude.com/carnet-de-route/2018/11/22/eric-alonzo-la-voie-a-travers-le-temps
   DIR [3] https://de.wikibrief.org/wiki/Paul_Virilio
   DIR [4] /US-Fernsehserie-The-Walking-Dead/!5131181
   DIR [5] /Eingestuerzte-Autobahn-A20/!5464498
   DIR [6] /Bruecke-in-Genua/!5527696
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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